letzter Kiesel


Kiesel VII
Tatsächlich habe ich mir schon öfters vorgestellt, dass ein ganz bestimmter Satz, der meinen Weg kreuzt, sich vortrefflich eignen könnte als in Goldbuchstaben auf einen schwarzen oder dunkelgrauen Grabstein eingelassen. Da ich bereits weiß, dass ich so einen Grabstein nicht haben werde, dient diese Vorstellung lediglich einer konzentrierten Idee, wie sich durch ein paar Worte ein ganzes Leben in einen Stein hineinmeißeln lassen könnte. Zum Beispiel Rabindranath Tagore, der geradezu jubelte, was für ein Festival sein Leben doch war, und dass er getan hatte, was er konnte. Allein dieser Teil: dass man getan hat, was man konnte. Natürlich kann jede/r Sterbende sagen, dass er oder sie getan habe, was sie konnten, denn hätten sie bzw. wir mehr tun oder es anders machen können, dann hätten wir’s ja getan. Was wir mitbringen, ist das Eine. Das Andere ist das, was wir daraus machen. Das gilt für Obdachlose wie für Putin oder für muslimische Frauen in nicht gewollten Ehen. Manchmal ist der Ausweg verschüttet, das kann ganze Völker in die Kniee zwingen. Niemand weiß, wie das alles möglich ist. Junge Leute feiern auf einem Event ihr Leben, da stürmen auf einmal Mörder ins Land, das Fest ist vorbei, lebendige Körper werden in Autos gezerrt, überall liegen Leichen. Man kann es sich kaum vorstellen, und doch geschieht es immer wieder, so als würden sich nur die Kostüme des Spiels verändern, der Inhalt aber immer der gleiche bleiben. Zu recht zweifelt man zuweilen daran, ob man wirklich so frei ist, wie es in dieser Gesellschaft zumindest ermöglicht wurde. Man geht in die Schule, lernt lesen und schreiben, und die meisten können ungehindert losziehen in ihre Vorstellungen. Natürlich ist es sehr viel komplexer. Hat man mal Heim, Bett und genug Nahrung, dann kommt es auf einmal darauf an, welche Richtung ich einschlage. Wem gehöre ich. Wofür will ich mein Leben einsetzen. Worauf muss ich achten, damit ich alle Fallstricke im Labyrinth bewältigen kann und selbst, wenn der Faden reißt, den Kopf nicht verliere. Denn der Kopf muss zur Verfügung stehen, denn dort sitzen die Schalttafeln, aber auch die Bibliotheken, die Archive, die Schatzkisten, das Gold. Also all das, was lebendige Geister für uns zurückgelassen haben, damit aus der grausamen Mär ein Fest werden kann.

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