erinnern


Luigi
Ich habe ihn gestern beim Verlassen des Abendgottesdienstes (Puja) erwischt, der direkt vor meinem Fenster stattfindet. Irgendwann habe ich ihm mal erzählt, dass einige von uns Foreigners ihn „Luigi“ nannten, weil er für uns aussah wie ein Italiener, und bis heute weiß ich nicht, wie er wirklich heißt. In seinem Laden gab es so ziemlich alles, was wir bzw. ich brauchte, wenn denn Rupien vorhanden waren, und immer war und ist er freundlich und zuvorkommend. Jetzt erweitern seine Söhne das Ganze, er sitzt im Laden und schläft oft ein. Ich bin keine natürliche Begabung im Erinnern und traue dem Erinnern wegen seiner oder meiner Löchrigkeit darin nicht so sehr. Aber nun kommt sie auf mich zu, weil es ein Abschied ist, den ich bereits vorprogrammiert habe, als ich 2020 drei Tage vor Landeslockdown Indien verlassen habe. Durch das Einreiseverbot war es einfach gemacht, aber nun steigt durch mein wieder Hiersein doch mein persönlicher Abschied  am Horizont herauf, und das Erinnern steht auf der Tagesordnung. Was mich aber heute angeregt hat zu diesem Beitrag ist eine Mail, die gerade bei mir hereinkam. Eine Frau meldete sich, mit der ich vor 45 Jahren nach Goa reiste, um dort Freunde zu besuchen, dann aber unterwegs, nämlich hier, ausstieg, weil ich genau spürte, dass es mein Ort und mein Platz war, was sich als unbedingt stimmig herausstellte. Nach den 9 Jahren in Kathmandu war ich in einer Art ekstatischem Zustand, endlich Indien (wieder) erreicht zu haben und herauszufinden, was es für mich bedeutet. Jetzt geht die indische Reise ihrem Ende zu, immerhin war ich fast die Hälfte meines Lebens an diesem Ort anwesend und kann mir mein Leben ohne diese Hälfte nicht vorstellen. Auch will ich nicht mehr selbst nach Erklärungen für dieses Abschiednehmen suchen und sie dann anbieten. Denn ich spüre es ja, dass es Zeit ist, es gibt keinen einzelnen Grund, und der Spruch, man solle gehen, wenn es am schönsten ist, trifft in gewissem Sinne auch zu. Hier sitze ich in einem wunderbaren Haus, das mir Freunde zur Verfügung gestellt haben, und lebe mitten unter ihnen. Ihnen, das sind die Vielen, mit denen ich jahrelang Kontakt hatte, oft nur durch freudiges Grüßen, oder durch gelegentliches Teetrinken in ihren Shops. Oder dann die doch tieferen Beziehungen mit den Frauen, deren Schicksal ich kennen lernte, oft genug katapultiert in gemeinsame Schockzustände über die unlösbaren Schrecken der Realitäten in den Haushalten, aus denen es bis heute wenig Entrinnen gibt. Aber beiden, Männern und Frauen, bin ich zutiefst verbunden, denn sie haben mir ermöglicht, mich in einer Gesellschaft zu bewegen, in der das, was ich jeweils war und mich zu erleben befähigte, viel Raum hatte. Denn ich war nicht in der Zwangsjacke der Ehe, sondern auf dem Weg, wo Kaste und sogar Gender keine Bedeutung mehr hatten, sondern es ging um das Erfassen und Manifestieren dessen, was wir für wesentlich hielten. Das wiederum war nicht so viel anders als bei Epikur. Unbedingt sollte man ihn (u.a.) nochmal zur Hand nehmen, um zu sehen, dass es diesen Weg immer und überall gab und immer noch gibt. Eine Sache, um die es da geht, ist sicherlich, die Furcht vor der Freiheit zu verlieren. Es braucht Mut, ja, und günstige Sterne, die einen begleiten.

 

 

 


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