belastet

In jedem verbrachten Leben bekommt der oder die Lebende unter anderem mit, dass neue Worte entstehen, die man sich entweder erschließen kann oder sie verschlossen oder ungehört halten. Oder sie gar nicht erst hören. So habe ich heute zum ersten Mal das Wort „Parentifizierung“ gehört und weiß, dass ich manchmal auch gerne diejenige bin, die ein Wort noch nicht zu Ohren bekommen hat. Nun gibt es viel Fachliteratur und Menschen schreiben ungeheure Werke, die kaum einer verstehen kann. Wir kannten mal einen Physiker, der auf der Nobelpreisliste stand, in dessen Lebenszeit es angeblich nur einen einzigen Menschen gab, der seine Formelwelt nachvollziehen konnte. Offensichtlich muss diese akrobatische Mystik auch ein Resultat hervorbringen oder irgend etwas weiterbringen, was irgendwem noch nicht weit genug gediehen scheint. Sinnfragen und ihre Grenzen. Aber wenn einem breiten Publikum ein zutiefst erschreckendes Wort wie „Parentifizierung“ untergeschoben und dann die übliche Statistik dazu geliefert wird, kann man das schon mal auf sich wirken lassen. Ich habe also verstanden, dass es eine hohe Anzahl von Kindern gibt, das nur in Deutschland registriert, die mit süchtigen oder hochdepressiven Eltern aufwachsen, die sich nicht nur kaum um die Kinder kümmern können, sondern das Kind übernimmt die Elternrolle und wird dadurch im natürlichen Ablauf seines Lebens gestört. Wie kann ein Kind solche Zustände einordnen? Ich muss gerade immer mal wieder wegen der ein paar Wochen alten Katze bei uns im Haus an die Zartheit und Ungeschütztheit von Kindern denken. Nicht um Kinder und Tiere zu vergleichen, sondern um wahrzunehmen, wie so ein offener Geist, der noch keinen Schaden erlitten hat, sich für alles Bewegliche interessiert und sich unter einem aufmerksamen Blick spielerisch der Welt zuwendet und wie leicht das Wesen erschrickt, wenn sein Dasein nicht beschützt und willkommen geheißen wird. Und das Gestörtsein des Menschen wird dann als zur Gesellschaft gehörend deklariert oder ein Begriff gefunden, mit dem man es nennen kann, bis die vielen Fallbeispiele in den Büchern erscheinen, die man selten vor Augen bekommt, auch weil die Sprache dann zu spezifisch wird  und sich neue Welten bilden mit dem diskutierten und angewandten Wissen, sodass das Gestörte besser zugänglich wird. Und vor dem Gestörten liegt der Schmerz. Ist das dem Kind Zugemutete zu überfordernd, muss es notgedrungenerweise abgespaltet werden und wirkt im Schicksalsdrama in eigener Regie, die als das eigene Erleben gar nicht mehr erfahren werden kann. Meine Mutter hatte auch gewisse Suchttendenzen, die ich immer als angenehm registriert habe. In meinem Familienkreis haben alle Frauen leidenschaftlich geraucht. Meine Mutter ging auch unterwegs mal gern ins Kasino und für diese Gänge „durften“ wir schon mal älter aussehen, mit hohen Schuhen und so, weil wir ja auch rein dürfen mussten in die Halle, denn wo sollte sie uns lassen? Das war für mich aber nicht so belastend, sondern belastend war, dass sie oft lange nicht da war, und meine Schwester mich vollkommen in Anspruch nahm, und all meine Aufmerksamkeit forderte, mit der ich eigentlich mein Eigenes vorhatte. Das ist auch so ein tricky Effekt: es wird sich nicht um einen gekümmert, dann kümmert man sich aber ein Leben lang um andere. Und wenn man Glück hat, fällt es einem eines Tages auf, dass man sagt „ich kann nicht mehr“, und es auch tatsächlich hört. Wenn man merkt, dass man sich selbst nicht hört oder keinen Ausdruck findet für das Ertragene, ist es wirklich ratsam, Begleitung zu holen, bis man die Worte hat. Man braucht die Worte, um sich zu verstehen und sich anderen verständlich zu machen, wenn das gewünscht ist. Ja, eigentlich kann ich sagen, dass ich mich erst jetzt erhole von der Bürde, die meine Schwester, natürlich unbewusst, auf mich geladen hat, indem sie von mir als Kind gefordert hat, sie in meine Welt einzuschleusen und dort mit meinen kreativen Passionen zu unterhalten, was zu ungeheuren Anstrengungen geführt hat, die sich ins wahrhaft Unsägliche gesteigert haben. Allerdings waren meine Eltern in der ihnen gegebenen Zeit ziemlich gesund und humorvoll unterwegs. Dass man das Bewusstsein für Menscherzeugung nicht verantwortungsvoller vermitteln kann, ist klar. Verblüffend ist es trotzdem, dass Menschen so verhältnismäßig einfach hervorgebracht werden können, die dann zB parentifiziert, heißt: hochgestört unter uns herumgehen, beladen mit unausprechlicher Last. Da kommt dann wohl das sogenannte Glückselement dazu, wenn man auf Wesen trifft, mit denen man sich erholen und zu sich kommen kann.

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