boring


In einer befreundeten Familie habe ich heute von dem Hausherrn, einem Arzt, gehört, dass in Indien der Verbrauch bzw. die Einnahme von Anti-Depressiva in den letzten zwei Jahren enorm angestiegen ist. Er empfand es als ein positives Zeichen, dass Inder beginnen, psychische Störungen wahrzunehmen. Er selbst ist Alkoholiker und weiß wahrscheinlich, von was er redet. Ich fand es auf erschreckende Weise im Einklang mit den Familiensituationen, die mir bekannt sind, und wo es in der Tat eine unbeobachtete Krankheit gibt: die tödliche, unerträgliche Langeweile. Die Männer haben zwar mehr Möglichkeiten für Abwechslungen, doch draußen sehe ich die meisten in Riesengruppierungen beim tagelangen Zocken. (Gähn!) Die Geschlechtertrennung hat verheerende Auswirkungen. Sie haben sich einfach nichts zu sagen. Auf dieser Basis kann es nichts Gehaltvolles in der Stille geben, wenn es Fakt ist, dass Menschen sich nur im Dialog mit Anderen kennen lernen und verstehen können. Sich selbst erkennen können! Es stimmt, dass die Frauen, wenn sie nicht durch die haushältnerische Ödnis hysterisch geworden sind, oft entspannt wirken, worauf mich indische Männer gerne beim Thema hinweisen, als sei das der Garant für ihre Zufriedenheit. Mir ist aber durch die Gespräche mit den Frauen klar geworden, dass der Grund für die Gelassenheit eher die Tatsache ist, dass sie keine Wahl haben. Wer keinerlei oder extrem eingeschränkte Wahlmöglichkeiten hat, wird entweder verstockt, ablehnend und dadurch gestört im eigenen Ausdruck, oder entspannt in das Unvermeidliche. Da sind ja auch noch die Kinder und das 3-malige, aufwendige Kochen, und die lähmende Suche nach dem Gott im Mann. Es soll sich ja geändert haben in den Großstädten, aber auch nicht so sehr, wie man’s gern hätte. Wie hätte man’s denn gern? Ich bin einfach der tiefen Überzeugung, dass der Geist eines jeden Menschen zur Freiheit strebt. Freiheit ist für mich, wenn es überhaupt einen gibt, der Sinn dieses Abenteuers, Leben genannt. Freiheit bedeutet für mich, Verantwortung übernehmen zu können und zu dürfen für das eigene Leben, die eigenen Beziehungen, mein Verhältnis zur Welt und zu dem Wesen, das ich selbst bin. Sicherlich waren alle Kulturen und Traditionen mal mehr oder weniger ausgewogen, hatten ihre Blüte und ihren Niedergang, wurden geprägt vom Willen des Volkes und seine Bereitschaft zur Unterwerfung. In Indien wird nun die Zwanghaftigkeit des Systems sichtbar, die alles Lebendige einengt und überschattet. Wenn dieser Zustand eintritt, dann ist es Zeit für große, notwendige Veränderungen, für Durchbrüche und Aufbrüche, damit der Geist des Lebens sich wieder durchsetzen kann. „So langweilig!“, sagt Lali zu mir mit Blick auf ein Pilger-Paar, das sich neben uns schweigend und verschlossen die Chapattis und das Gemüse in den Mund schiebt. „No love. Only boring.“ Langeweile ist tödlich. Noch wird Depression in Indien nicht als Krankheit angesehen. Wahrscheinlich gibt es so viele Abgehängte in den Häusern, sodass man es, wie so vieles andere, als „normal“ mitlaufen lassen kann. Jalte hai! Geht doch!
Da unten am See ist mal wieder Exorzismus-Tag. Zwei Männer werden ins Wasser geschleppt. Einer rennt davon, schwankt und schreit. Ich habe schon meine Tasche geschultert und will hingehen. Dann setze ich mich wieder. Hilflos und oft gezwungen, bei ihren Wegen Beobachterin zu sein und zu bleiben.


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