nett

In zwei der wenigen Anekdoten, die von meinem Vater durch meine Mutter überliefert sind, soll er einmal vor dem Spiegel stehend „Wer kennt sich selbst?“ gesagt haben, und ein andermal „Nettsein genügt nicht“. Vielleicht deswegen konnte auch ich das Wort „nett“ nicht leiden, und zwischen „nett“ und „freundlich“ oder „wohlwollend“ klafft m.E. ein unüberwindbarer Abgrund. Nettsein ist nicht nur ein Schutzmechanismus vor den vermuteten Gefahren da draußen, mögen die noch so nebulös erfahren werden, sondern Nettsein ist eine Waffe, gerne von Frauen benutzt und bei toxischen Männern beliebt im Repertoire des Verhaltenspotentials. Eine kluge Frau hat mir einmal erklärt (und die sich immerhin bewusst darüber war), so eine Waffe gezielt einzusetzen. Wo Nettsein wegen der oberflächlich erfolgreichen Resonanzebenen zur Gewohnheit geworden ist, werden auf der anderen Seite der Skala die Durchsetzungsmechanismen geschwächt, bis letztendlich Durchsetzungskraft ganz und gar ausfällt. Irgendwann sucht das System nach Reizobjekten, die diese Ermüdung des Systems wieder in Schwung bringen können. Gerne und begabt tapse ich in diese Falle, wie üblich in solchen Situationen mit einer völlig anderen Story, die aber irgendwie da reinpasst. Ich traue einem Menschen nicht, wenn er oder sie sich mir gegenüber ständig von der netten Seite zeigt, mich interessiert eher, was dahinter steckt. Die Frau, die ich oben erwähnt habe, kam sich selbst auf die Schliche und erzählte mir später, dass es hinter ihrer Nettheit ein zwanghaftes Bedürfnis gab, geliebt zu werden. Das ist ja nichts Neues, und jede/r von uns kennt Spuren dieses Wunsches in sich, und sie schaden auch nicht, solange sie nicht zu Obsessionen werden, mit denen man etwas vermeintlich dringend Gebrauchtes erzwingen will. Nettsein will immer was von Anderen. Ist man selbst immer nett, müssen die Anderen ja auch nett sein, oder was ist denn mit denen los?! Dem netten Menschen liegt viel daran, pflegeleicht zu wirken, er oder sie tut ja alles, um nicht zu stören, was automatisch zu vorprogrammierten Störungen führt. Natürlich ist Nettsein auf der Schlimm-Skala auch nicht schlimmer als agressiv sein, es passt jedenfalls oft genug durch Reizauslösung prächtig zusammen. Es ist ja vermessen und sinnlos, jemand Nettes aus diesem Raum herauslocken zu wollen, auch wenn es verdammt nerven kann. Man muss einfach nur für sich selbst klären, welche Anteile in einem selbst anspringen, wenn man mit solchen Verhaltensweisen konfrontiert wird. Nettsein ist die Vermeidung dunkler Anteile. Nicht d i e dunklen Anteile, die von anderen auf jemanden projeziert werden (bis er sie glaubt), sondern die, die ich selbst in mir finde und erkenne. Dass Nettsein auch eine tödliche Wirkung auf einen selbst haben kann, habe ich neulich von einem Arzt und Therapeuten in einer Sendung gehört. Zuerst fand ich es krass, dachte dann aber nach und sah die Gefahr in dem Sinne, dass wir zu unserer Heilung die inneren, dunklen Kräfte brauchen. Wenn ich sie aber lahmgelegt habe, muss ich sie beleben, um aus der zwanghaften Haltung wieder herauszukommen. Nettsein ist eine Form des Selbstbetrugs, unter dessen Maske der Hass brodelt, ausgerüstet mit einem Scharfschützenauge.

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