Geschnürtes

Manchmal entdeckt man ein Ding, das man lange nicht gesehen hat, und auf einmal sieht man es wieder und merkt, wie man es immer schön fand. „Immer“ heißt hier, solange man sich erinnern kann. Man kann Schnur schon als Kind geliebt haben. Schnur ist ein Wunder an sich. Einerseits wird es von Menschen hergestellt, andrerseits gibt es in der Natur sehr viel Schnurähnliches. Vielleicht wurden auch die ersten Seiltänzer und Trapezkünstler von Tieren angeregt, die ihre eigenen, phantastischen Netze spinnen ohne Ausbildung. Aber was man als Mensch, ist die Schnur einmal unter uns angekommen, alles mit ihr machen kann, ist ja beeindruckend. Kein Haushalt ohne Schnur. Schnürsenkel werden immer noch geschnürt, auch Rucksäcke usw. Ich meine jedoch nicht so sehr diese exotischen Varianten, sondern die einfache Schnur, die vielleicht im Hanfseil eine Steigerung hat. Aber was ich immer geliebt habe, ist diese einfache Schnur. Die Farbe ist schön, und kombiniert mit ihren Schattierungen kann sie ihre Schönheit richtig entfalten. Wie in allem Hellen, so gibt es natürlich auch hier die dunklen Seiten des Schnürens, zum Beispiel die zugeschnürte Kehle, die einen nicht zu Wort kommen lässt, und die, an der man sterben kann. Da kann es regelrecht finster werden. Wie kam ich drauf, hinweg, hinweg, damit die eigene Kehle frei bleibt. Ach ja, es tauchte an meinem Horizont wieder eine Marktlücke auf. Ich habe ja, wie berichtet, einen Riecher für Marktlücken. Meine Marktlücken haben allerdings wenig mit dem Profit an Märkten zu tun, sondern mit der Freude der Lücke, die man als anregenden Denkbewegungsraum nutzen kann. So kam der Gedanke auf, man könnte Bündel schnüren und sie Menschen zur Auswahl reichen. Da ist das Sorgenbündel, oder das Freudebündel, oder das Festlichkeitsbündel oder das Trauerbündel, oder das Navigationsbündel, oder das Wüstenbündel undsoweiter, eben was man grad braucht, kann man wählen. In dem pergamentartig gerollten Bündel gibt es eine Auswahl von Zuständen, die mit dem Thema zu tun haben, sie werden auch von einem selbst gebündelt. Das Gute daran wäre, dass es einem bei der Frage, wie man grad drauf ist, helfen könnte. Man öffnet also das einem mehr oder weniger entsprechende Bündel mit der schönen Schnur, und sieht nach, ob etwas resoniert. Ja, keine Ursache. Gerne. Dann gibt es natürlich noch die schnurlosen Bindungen, die man mit Menschen oder Dingen hat. Oder man hat noch ein Telefon mit sehr langer Schnur, das man elegant durch die Gegend tragen kann, bis man da sitzt, wo man sitzen möchte. Das gleicht eher dem Tanz. Aber schnurgerade auf etwas zugehen ist auch schön. Gestern habe ich auf einen Tipp hin bei Arte eine Dokumentation über „Monte Veritas“ gesehen (empfehlenswert aus verschiedenen Gründen), und dort wurden ab und zu Frauen aus dem 18. Jahrhundert eingeblendet, die von Korsetts so eingeschnürt waren, dass man sich wundern darf. Sich einschnüren oder einschnüren lassen ist keine gute Idee. Man prangert unsere momentane Zeit oft an, aber ich finde, dass auch eine Entschnürung durch die Welt geht, mit der man in verbindlichen oder unverbindlichen Kontakt kommen kann, wenn man möchte.


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