freie Fahrt

Der Windjammer Alexander von Humboldt © www.gruene-segel.de

Als ich vor (vielen) Jahren im indischen Dorf etwas eingesiedelt und angesiedelt war und allmählich andere „Foreigners“ eintrafen und auch länger blieben, fragten mich die Einheimischen öfters erstaunt nach westlichen Vorstellungen von „Freiheit“. Für Hindus war es z.B. undenkbar, dass ein Mensch, der ab 10 Uhr aufsteht und dann irgendwann aufs Klo gehen muss, „frei“ sein kann. Der Busfahrer, der indische Menschen in einen Morgen hineinkutschiert, weiß genau, wann alle w a s müssen, und zwar, wenn auch er nach indischen Traditionsvorgaben muss. Die Freiheit, die ein Inder oder eine Inderin erfährt, ist die Freiheit, die Bürde des Schicksals, das sich im Laufe der Zeit zu erkennen gibt, auf angemessene Weise zu handhaben. Daher verblüfft es sie, wenn ein Mensch, den die westliche Gesellschaft ja ziemlich „frei“ lässt zu entscheiden, sich der Meinung des Kollektivs nach nicht „angemessen“ verhalten kann. Das bedeutet: gemäß sorgsam reflektierter Werte, die durch die Jahrtausende des menschlichen Verhaltens noch optimiert werden konnten. Der westliche Mensch trägt aber genau die gleiche Bürde, nur in anderer Kostümierung des Gedankentums. Im Westen ist ja das sogenannte „Ich“ gründlich hervorgelockt und stabilisiert worden. Und nun darf man sich drum kümmern und darf, gleichermaßen als Frau und als Mann, gründlich darüber nachdenken….ja über was denn, über was denken die meisten“ freien“ Menschen im Westen eigentlich nach.(?) Es gibt ja nach wie vor  exzellente Vordenker/Innen, und zur Optimierung des Seins gibt es ebenso viele anlockende Angebote wie zur Heilung all der seelischen und geistigen Wunden, von denen ein westlicher Geist notgedrungenermaßen ausgeht, da er überall mit Wunden in Berührung kommt. Oder er fällt dem erholsamen Gleichmut anheim, wo aufgetankt werden kann zu neuem seelischem Aufschwung. Vielleicht kommt deshalb die Wortschöpfung „fly sein“ als Jugendwort des Jahres gekürt, aus kollektiver Erfahrung,  denn hier geht immer jemand oder etwas ganz besonders ab. (Ist frei sein fly sein?) Inder fliegen auch ganz schön ab von ihren kulturellen Positionen, aber das Kollektiv, mit naivsten Formen der Gläubigkeit an die lebensspendenden und erhaltenden Rituale gebunden, hält die ständig dahinter brodelnde Anarchie noch im Zaum. Überall kann man sich, wenn man möchte, auch aus zutiefst persönlichem Interesse, in der Menschheit nach „freien“ Menschen umsehen, was eher einer Schulung der Wahrnehmung gleicht, was ich überhaupt selbst unter „Freiheit“ verstehe. Dieses  Jahr in Indien ist mir noch klarer geworden, dass das Heraustreten des Individuums aus dem Pulk der Gesellschaften, seien es Religionen oder Familienbünde oder Industrieunternehmen usw. erst ermöglicht, sie als Konstrukte zu erkennen, wodurch die Frage nach“Drin-oder Draußensein“ relativ unbedeutend wird. Bedeutend wird aber die „Verantwortung“, ein Wort, das ich gerne durch ein anderes mit dieser Bedeutung ersetzen würde, wenn es eines gäbe, was weniger schwer geladen ist. Die Verantwortung für das eigene Vorhandensein also. „Verantwortung“ bedeutet ja nur „Antwort geben können“, in meinem Sinne auf das, was man als Freiheit versteht, und was einem, auch unabhängig von persönlichen Meinungen, als letztendlich situativ angemessen erscheinen mag im Umgang mit Menschen. Ich denke, wenn Freiheit und Verantwortung zusammenfließen, ergibt sich daraus ein kreatives Potential, das zu angemessener Resonanz auf das jeweilige Geschehen in der Lage ist.
Den Artikel über die Jugendsprache und die jährlich prämierten Worte habe ich monatelang in meinem Gepäck herumgetragen. Mich interessieren neue Worte, die im Sprachgebrauch auftauchen, da ich selbst Worte kreire, wenn ich das bisher Verfügbare für mich erweitern möchte. Noch ein Wort, das mir gefallen hat, war „Niveaulimbo“(2010 prämiert). Das Versinken eines gewissen Niveaus, dem man bei der abenteuerlichen Reise in der Navigation immer mal wieder ausgesetzt ist, sollte durchaus ab und an als Gefahr gedeutet werden.


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