staunen

Beim Suchen von was anderem habe ich in meiner Reisetasche einen deutschen Artikel über Jodhpur gefunden, den ich Lali mal vorlesen wollte, weil sie in Jodhpur verheiratet war, bis ihr klar wurde, dass ihr Ehemann die gemeinsamen Töchter, damals zwischen 8 und 10 Jahre alt, sexuell belästigte, und sich letztes Jahr, auch in Jodhpur, das Leben genommen hat. Der erwähnte Zeitungsartikel wurde von einem zum ersten Mal nach Indien reisenden Reporter gemacht, dessen Boss in der Redaktion ihn ins „Blaue“ schickte, ein Scherzlein, da Jodhpur berühmt ist für seine blaue Hausfarbe. Dort verfiel er dem Staunen. Er hatte offensichtlich in Indien sanftere Klänge vermutet, und sein Geist hatte für ihn tief versunkene Meditierende visioniert, die wir in Indien eher selten sehen, außer man schließt sich irgendwo an irgendwen an und sitzt dann da rum, das kann Jahre dauern, oft auch deshalb, weil der Geist aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Sicherlich hat auch das Staunen eine Grenze, wo es einem nicht schadet, mal ein paar stocknüchterne Schritte zu tun, aber im Großen und Ganzen ist Staunen eher mild und harmlos. Der Reporter zB staunte auch darüber, dass es in Indien so laut ist, sodass er vor lauter Hupgetöse fast die Schmerzen der indischen Kopfmassage in einer Rasierbude vergessen konnte. Viele Menschen, sie sind nicht mehr zählbar, sind von diesem Staunen erfasst worden. Hier gibt es keine Gewissheit, denn alle wissen, dass alles jederzeit sein kann. Und es kann! Es macht nicht Halt an menschlichem Tun, sondern die Götter mit ihren Fahrzeugen sind auch unterwegs. Man staunt, wie oft (noch) eine Hand nach oben zeigt in den Äther, wo die wahren Spielleiter wohnen, letztendlich gebündelt als Einheit auf den abstrakten Ebenen indischen Denkens, wo „abstrakt“ ohne Zögern mit  diamantener Qualität und Klarheit gleichgesetzt werden kann. Wissen kann tief sein, aber auch sehr hoch. Einfach, hoch, anwendbar, durchführbar, praktisch, wenn auch die Bedingungen nicht gering sind. Aus dieser Quelle sind auch der Buddhismus und der Jainismus geboren, die wiederum eigene, reichhaltige Systeme erschufen und klar machten, welche Lebensentscheidungen für den Menschen auch noch zur Verfügung stehen. Man darf staunen.
Manchmal fängt es schon beim Frühstück an. Das Brot hat ein Gesicht (s.o.)! Kurz vor der Namensgebung muss man hineinbeißen, und nein!, das ist kein toter Vogel (s.o.), sondern ein zerfranstes Fadengewebe, und ja! Vogelmist (s.o.). Das Schöne am Staunen ist auch, dass es nicht aufhört, wenn man sieht, wie es wirklich ist.


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