Das Kiew

 
Crowd-gesourcte Radikalisierung *
Frank-Walter Steinmeier hielt also diese Rede in Kiew, die ich nicht direkt gehört, aber dann nachgelesen habe. Ich gehöre auch noch zu diesen berüchtigten Jahrgängen, in denen Dinge geschehen sind, die schwer bis unmöglich zu fassen sind. Steinmeiers Rede beginnt mit Worten eines Dichters, denen man zuweilen zutraut, doch noch Worte zu finden für das, was einem vom wortlosen Grauen her anstarren kann. „Über Babyn Jar“, sagte der Dichter Jewgenij Jewtuschenko, „da redet der Wildwuchs, das Gras. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf; ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme. Nichts, keine Faser in mir, vergisst das je!“ Die Menschen in Kiew glaubten, sie werden umgesiedelt, und das hatte schon ein unheimliches Schweigen verursacht. Dann wurden sie aber zu einer Grube geführt, mussten sich nackt ausziehen und sich auf die bereits Toten legen, um alle erschossen zu werden. 33 771 (offensichtlich gezählte Körper) wurden in zwei Tagen erschossen. Das sind erst ein paar Jahre her, ein einziges Menschenleben. Ich war sehr jung, als ich Deutschland verlassen habe, dem Ruf meines eigenen Abenteuers folgend. Erst viel später begann das Unsägliche, das in diesem Land geschehen war, seine Wirkung auf mich auszuüben. Ich öffnete ein Tor, eine Bereitschaft, mich einzulassen auf das, was in meiner Möglichkeit stand. In der Zwischenzeit wissen wir, dass nur das, was unser eigenes Sein in einer von uns ausgeloteten Tiefe erreicht, auch eine Wirkung auf unser menschliches Verhalten ausüben kann. Aber was ist tief, und wie komme ich dort hin? So ist es meistens das Grauen, das durchsickern kann durch die Widerstände gegen die Erkenntnis, dass Menschen zu einem Ausmaß entgleisen können, das man nicht für möglich hält, weil es das eigene Fassungsvermögen strapaziert. Und doch wissen wir auch, wie diese willigen Mörderhände liebevoll über Kinderköpfe streichen konnten und können. Da weist die Realität, in der Menschen sich bewegen, bereits einen unüberbrückbaren Abgrund auf. Wie und wodurch kommt es zu diesem Blick, der sich weigert, einen anderen Menschen als einen Menschen zu betrachten, dessen Leben einem weniger wert erscheint als das eigene. Wie kommt es zu  einem Gehirn, das sich ermöglicht hat, so zu denken, dass Vernichtung als logische Folgerung erscheint. Nun hat uns der Prozess um Eichmann ja gelehrt, dass man unter der Betäubung des Grauens auch einschlafen kann. Das wurde jedenfalls als extremste Reaktion auf Eichmanns „normales“ Pflichtbewusstsein wahrgenommen, dem es auch später nicht in den Sinn kam, sich betroffen zu fühlen. Auch heutzutage zeigt es sich noch, dass man für eine Gehirnwäsche auch bereit oder geeignet sein muss. Und was wird da überhaupt gewaschen? Vielleicht war gar keine eigene Substanz zum Waschen und Ummodeln da, sondern ein attraktives Gift träufelte langsam aber sicher in die Leere und nahm dort Stellung ein, auf einmal bedacht mit Titeln und Aufgaben und einem Hunger nach Bedeutsamkeit genügend, die das ganz Kleine ganz groß macht. Es geht dann wohl weiterhin so „banal“ zu, wie man es sich nicht vorstellen möchte. Und wie damals, so gehen auch heute wieder die neuen Braunen in die Schule, können lesen und schreiben, daran liegt’s also wohl nicht. Woran es liegt, weiß man immer noch nicht. Und wer hat schon die ganze Unterwelt in sich selbst durchwandert, hat auf den unbeleuchteten Korridoren die von Spinnweben versperrten Zugänge geöffnet. Und wo hat man dort noch eine funktionierende Laterne, die einen nicht im Stich lässt, wenn alle Stecker versagen?
*Der Begriff stammt aus einem Artikel der „Zeit“.

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