(ent) sagen

Manchmal ist es hilfreich für die Erfahrungserweiterung, Realitäten, die einem einfach vorkommen, ganz nahe an sich heranzurücken, etwa um eigene Flüchtigkeiten der Wahrnehmung zu justieren. So kann und muss man sofort übereinstimmen, dass wir, die wir gerade leben, alle gleichzeitig da sind, aber in genau so vielen Wahrnehmungsmodulen wie unsere genaue Anzahl. Wir wissen nicht, gemessen an westlichen Maßstäben, wie viel Freiheit unter einer Burka wirklich möglich ist, genauso  wenig, wie wir wissen, was ein SUV-Fahrer so denkt. Das sogenannte Schicksal hat seine eigenen Wege, und wie alles andere auch, ziehen diese wiederum bestimmte Handlungsweisen nach sich. Aber um zum Beispiel ein Jihadi zu werden, muss ich schon gravierende Entscheidungen treffen, die eine eigene Lebensform nach sich ziehen. Sich für Morden zu entscheiden, ist kein Klacks, und Kain hat es bestimmt auch nicht gut getan, als ihn die nagende Stimme fragte, wo er denn sei, sein Bruder, obwohl er kaum leugnen konnte, dass er ihn selbst umgelegt hatte. Selbst die epischen und religiösen Anekdoten müssen gar nicht wahr sein, um erkannt zu werden als etwas, was schon immer da war. Nämlich, dass  Lebende irgendwann, ob sie nun wollen oder nicht, einen Pfad einschlagen, an dessen Führung und Richtung sie zumindest prozentual beteiligt sind. Man kann natürlich, wenn man hochgradig unzufrieden oder verzweifelt ist, auch aus dem Spiel aussteigen, aber auch hier gibt es noch enorme Unterschiede in der Handhabung souveräner Rechte. Heute musste ich an eine andere Lebensgestaltungsform denken, die ich in dieser Art und Weise nur von Indien kenne. Es gibt dort eine religiöse Bruderschaft, „Nagas“ genannt, die Nackten, und sie tragen tatsächlich nichts als Asche, leben aber meist in Gegenden, wo Menschen jetzt nicht unbedingt in großen Mengen herumwandern. Die Asche und die Nacktheit sagen aus, dass sie abgeschlossen haben mit den Verführungen der Matrix, wer soll das schon überprüfen. Auf der berühmten Kumbh Mela dürfen sie das heilige Bad anführen, und das erste Mal, als ich dort, ebenfalls als praktizierende Yogini, der Gruppe ein paar Schritte zu nahe kam, drohten sie mir mit Speeren. Schade, dass ich damals nicht selber einen hatte, weil ich mir wohl noch nicht sicher war über die Angemessenheit meiner Instrumentarien. Vor ungefähr drei oder vier Jahren kam einer von ihnen zu uns ins Dorf. Außer seiner Nacktheit sprach er auch nicht, vielleicht fand er keine Worte. Mühelos wurde er schon alleine dadurch geehrt, dass er Tag und Nacht im Sichtbaren lebte. Man rät ihnen u.a., in der Gesellschaft ihr Geschlecht zu bedecken, und so tragen sie im Öffentlichen meist eine Art Lendenschurz, nur kleiner, Lungoti genannt. In der Pandemie kam ein Witz auf, der Mundschutz sei aber in Indien sehr tief gerutscht. Nun, der Nackte trug auch bald kein Lungoti mehr, nur Asche. Dann lief er noch eine Weile herum mit einm Tuch auf der Schulter, dann bald ohne. Nackt war er und sprach nicht und wirkte ziemlich lebensfroh. Als Symbol von etwas, was sonst keiner konnte, gewann man ihn lieb, denn es war ja auch angenehm, mit seinem Denken nicht konfrontiert zu sein, und vielleicht hatte er auch gar keins. Was er war, genügte. Hoffentlich ihm selbst ebenso. Und wenn er inzwischen nicht gestorben ist, trägt er wahrscheinlich immer noch Asche und sagt kein Wort.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert