Lali

Gestern kam Lali zu mir, direkt von der Schule, wo sie eine der letzten Prüfungen ablegt für einen Regierungs-Job als Lehrerin, der gut bezahlt ist und so ziemlich alle Sorgen für sie und ihre drei Kinder beenden wird. Ich kenne sie, seit sie vier Jahre alt ist und bin die einzige, die sie noch ‚Lali‘ nennt, ein liebevoller Name für Mädchen. Sie wurde in einem der wenigen Tempel geboren, in dem Fremde keinen Zutritt haben. Es soll mal durch sie einen Diebstahl gegeben haben, irgend etwas Kostbares, womit sie erwischt wurden. Ihr Vater war ein gutherziger, stiller Mann, der ihre Anwesenheit nach drei Söhnen willkommen heißen konnte und sie auch in allem, was sie wollte, unterstützt hat. Im Tempel verdiente er sich durch Wassertragen etwas extra Geld dazu. Es gab zu seiner Zeit noch keine Maschinen, und er zog das Wasser an Seilen aus einem Brunnen und trug es dann auf einer Holzstange, links und rechts in einem Kanister mit je 15 Kilo, zu den Priestern, wo er die großen Wasserbehälter aus Ton füllte. Als ich ihn kannte, saß er in seinem inzwischen eröffneten Pilgerrestaurant immer auf einer Bank wie ein Vogel und schwieg. Als er starb, war Lalis Familienglück beendet. Obwohl ihre Mutter keinerlei Sinn darin sah, ein Mädchen auszubilden, setzte sie ihre Ausbildung bis zum College durch. Dann verkuppelte ihre Mutter sie trotz intensiver Warnungen über die Familie ihres zukünftigen Mannes eben mit diesem Ehemann, von dem sie sich später, und leider auch zu spät, getrennt hat, weil ihre Kinder nicht mehr von einem Ferienaufenthalt nach  Hause gehen wollten, ‚weil der Papa immer nackt auf ihnen lag‘. Nach der Trennung kam er irgendwann mal wieder und bat um Vergebung, aber sie wollte gar nicht vergeben. Etwas später hat er sich von einer Brücke heruntergestürzt, von da an bedauerte man sie als Witwe. Gestern erzählte sie mir, dass selbst ihre Mutter und ihr Junkie-Bruder, der seit dreißig Jahren auf Heroin ist und außerdem keinen Finger rührt, ihn immer wieder zu verstehen  geben, dass sie eigentlich im Haus ihres Mannes leben sollte, von dem sie geflohen ist. Eine Witwe in Indien zu sein bedeutet, für Andere einen Schatten darzustellen, dem man aus dem Weg geht. Sie ist schon seit Jahren die verlässlichste Kraft in der Führung des Restaurants, aber es gibt nie auch nur die geringste Achtung dafür, sondern im Gegenteil erzählt ihre Mutter den Pilgern manchmal, auf ihre Tochter deutend, dass sie Witwe sei und halt durchgefütetrt werden muss. Ich war dann richtig erleichtert, als Lali in Tränen ausbrach, ein Schluchzen aus der tiefsten Tiefe dieser trostlosen Qual. Zur Zeit arbeitet sie im Restaurant von 7 bis 10 Uhr, geht dann in die Schule, in der sie 4 Monate Praxis als zukünftige Lehrerin absolvieren muss, geht dann, auch gestern nach unserem Kaffee, zurück in das Restaurant und arbeitet dort bis Mitternacht. Dann noch ein Examen, dann endlich der Beruf, dann ein größeres Spielfeld, dann langsam ein menschlicheres Umfeld mit ihren Töchtern und mit ihrem Sohn, mit denen sie auf gute und liebevolle Weise verbunden ist. Zum Glück ein Ausweg aus dem Alptraum. Weg von der Mutter, und weg von den Brüdern. Nein, die Götter bringen keine Menschlichkeit in diese Vorgänge hinein und verhindern eher ihr Erscheinen. Das muss schon vom Menschen selbst kommen, dieses nicht nur Mensch sein, sondern auch menschlich. Wer soll es uns beibringen (als wir uns selbst).

 


One thought on “Lali

  1. Anja Antworten

    Berührt von ihrer Geschichte meine herzlichsten Grüße an Lali, ich wünsche ihr viel Glück und Freude und viele wohlwollende Menschen um sie und ihre Kinder herum! Wer die Liebe erkennt und lebt, findet zur Menschlichkeit.

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