erhalten

 

Es war, wie wenn sich auf einmal eine Dunkelheit ausbreitete und wir alle auf irgendeine Weise, vielleicht der momentanten Befindlichkeit entsprechend, damit in Berührung kamen. Als ich vom See zurückkehrte und kurz danach noch einmal hinausging, um mein Phone an einem kleinen Kiosk aufladen zu lassen für die nächsten Monate, setzte sich ein Mann mit einem Koffer neben mich, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er wartete offensichtlich, bis es bei mir klickte, aber es klickte nicht, stellte sich aber heraus, dass er vor vielen Jahren schon einmal hier war und ein guter Freund des Mannes war, mit dem ich ein paar Jahre in Kathmandu zusammengelebt hatte, und damals dabei war, mein Leben neu zu gestalten. Nun saß hier dieser Mensch wie ein Gepenst aus vergangener Zeit und begann, mir eine Geschichte nach der anderen zu erzählen mit der Frage, ob ich mich erinnere. Er hatte unendlich viele Erzählungen über mich auf Lager und sagte, ich wäre selbst in New York in Künstlerkreisen eine Legende. Das konnte ich erheiternd finden, in irgendwelchen Köpfen eine Legende zu sein. Inzwischen war die Nachricht von der Bombardierung der indischen Armee in Pakistan durchgedrungen. Die Männer waren guter Laune, werden Hindus doch häufig von Muslimen alg kampfunfähige Schwächlinge gesehen.  Dann wurde ich plötzlich in das naheliegende Hotel einer mir bekannten Familie gerufen, um dort eine junge Israelin davon abzuhalten, aus dem Fenster zu springen. Das Zimmer war im zweiten Stock, und als ich sie zurückdrängte vom Fenster, blickte ich unten auf eine Menge aufgeregter Gesichter, die halb hofften, halb fürchteten, dass es ihr gelingen könnte. Im Zimmer waren überall Scherben und Blutstropfen. Sie fand ihr Leben wertlos und sah keinen Sinn darin, es weiter zu bewohnen. Nach ein paar Stunden wusste ich, dass hier professionelle Hilfe gefragt war, und es fand sich ein angenehmer junger Mann, der auf dem Heimweg nach Israel war und sich bereit erklärte, sie dorthin zu begleiten. Als sie durch ein organisiertes Beruhigungsmittel in Schlaf fiel, ging ich zu meiner Freundin Lali, um bei einem Chai selbst etwas zu entspannen. Sie war aber noch angespannter als ich, denn in ihrer Familie wurde gerade entdeckt, dass die Frau ihres Neffen Gift gekauft hatte und sagte, sie wolle ihre Kinder damit umbringen. Endlich konnte der Vater bewegt werden, die Einweisung in eine Anstalt für möglich zu halten. Ich fing an zu frieren. Von überall her schien ein kalter Wind zu wehen, der kalte Wind menschlichen Leidens, das einen so oft ohnmächtig verstummen lässt. Ich fand vor allem am Abend des schwer wiegenden Tages berührend, dass alle indischen Frauen, die ich näher kenne, mit mir Kontakt aufnahmen, weil sie wegen der politischen Entwicklung besorgt sind. Ich dachte an den Begriff des Papstes, den er durch die Reden einiger Frauen bei der Anti-Missbrauchskonferenz gefunden hatte und ihn als “ Mysterium des Weiblichen“ prägte. Vielleicht ist in der Tat das Mysterium des Weiblichen, das sich durchaus auch in Männern manifestieren kann, dass wir uns sorgen um den Erhalt des Lebendigen, denn  wenn es zerstört wird, ist alles verloren. Dann weiß man nicht mehr, was oder wer nur noch herumgeistert, und was oder wer noch am Leben aktiv beteiligt ist mit dem ausgerichteten Willen, diese Kostbarkeit vorhandener Zeit wertschätzend zu erhalten und zu gestalten, für jedes Lebewesen, und auch für sich selbst.

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