Underground

Jedes Jahr fahre ich einmal früh am Morgen wie heute in die Stadt, parke mit einem 24 Stunden Ticket an einem günstigen Ort, zur Zeit günstig auch wegen schattenspendenden Bäumen, nehme dann die U-Bahn bis zum Reisebüro, wo ich mit freundlichen, indischen Menschen mein Ticket nach Delhi plane, und wandere dann hinüber zum Visa Office, was zusammen 2-3 Stunden dauern kann. Da ich jährlich nur dieses eine Mal U-Bahn fahre in dieser Stadt, fühlt es sich immer an wie ein Erleben der anderen Art. Hinunter in die Schächte, wo die lautlosen Türen auf-und zugehen und das Fremdsein unter Menschen eine spürbare Form annimmt. Ich setze mich einem riesigen Berg von Mann gegenüber, der zwei Sitzplätze in Anspruch nimmt. Er ist sehr müde und schläft ständig ein, um sich ruckartig wieder aus dem Schlaf zu lösen. Während eines Schlafanfalls tritt er auf meinen Fuß und entschuldigt sich auf sehr höfliche Weise, sodass ich froh bin, sagen zu können „alles gut, nichts passiert“. Dann hält die Bahn an einer Station minutenlang mit offenen Türen, es gibt eine Durchsage. Ich frage eine Frau am Nebensitz, ob sie verstanden hat, was los ist. Sie muss ihr flinkes Posten unterbrechen, um mir schlechtgelaunt zu sagen, dass das doch nur das Übliche sei, eben ein Rückstau. Aha, ein Rückstau. Sie kann ja nicht wissen, dass ich nur ein Mal im Jahr U-Bahn fahre. Ein Vater befiehlt seinem kleinen Sohn, auf dem Sitz zu bleiben, während er die Fahrkarten holt. Der Vater verschwindet in der smartphonebesetzten Menge vor den ängstlichen Kinderaugen. Hier in der Unterwelt ist Fremdsein Pflicht. Ich kann nicht einfach hinübergehen und tröstende Worte sprechen. Ein Kind erlebt am Tag viele Katastrophen, bis es begreift, wie die Sache läuft, und auch dann wird es dadurch nicht immer besser. Ich denke an die U-Bahn in Lissabon, weil es dort so ähnlich war. Es gab die U-Bahn fahrenden Touristen, die an schöne Orte unterwegs waren, zum Kaffeetrinken und Törtchenessen, und es gab die Menschen, die zur Arbeit fuhren, die sahen nicht so unternehmungslustig aus. Man hatte sich sogar bemüht, Künstler die Schächte gestalten zu lassen, aber nur die Besucher standen und staunten über die antiken Weisheiten, oder lasen die Sprüche von Fernando Pessoa. Trotzdem möchte man im Dunkel nicht steckenbleiben und ist froh, wenn es weitergeht und man nur zweimal  Billets lösen muss. Es liegt ein Schweigen über dem Ganzen, so als hätte jemand die Gespräche verboten. Orpheus späht angestrengt durch die zitternden Körper. Vielleicht ist sie ja hier in einem der Wagons!? Derweilen sitzt Eurydike in einem anderen Abteil und postet den unsterblichen Satz: „Hör endlich auf, mich zu suchen. I m here. But where r u !? Dann darf ich aussteigen mit dem Gefühl, in kurzer Zeit sehr viel Wortloses erlebt zu haben, was nun dem Licht des Tages ausgesetzt ist.

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