trauern


Vor ein paar Jahren wurde ich einmal von einem Freund nach Guatemala eingeladen. Der Einladung ging eine tiefe Überwindung voraus, und es gab zwei Gründe, die mich dann vor allem zur Reise bewegten: ich wollte sehen, vor was ich mich fürchtete, wenn ich an Süd-oder Mittelamerika denke bzw dachte, und es gibt einen Jaguar-Tempel dort, den ich unbedingt sehen wollte, aber ich kam wegen der Ümstände nie hin. Alles kam mir vor wie wenn ich mich in einer Geschichte von J.L.Borges bewegte, überall Einfaches, gehüllt in Undurchdringlichkeit. Es gab viel Gutes, aber auch viel guten Grund zum Fürchten. Seltsam, dass ich auf den Treppen der schneeweißen Kirchen öfters mal Blutströme sah. Das Römisch-Katholische schien irgendwie gar nicht zu den Indianern zu passen, sondern kam mir vor wie ein Gefängnis der Mayakultur. Bevor eine gigantische Katastrophe ausbrach, hatte ich eines der schönsten menschlichen Erlebnisse in meinem Leben. Ich wohnte in der Nähe des beeindruckenden Atitlàn Sees und machte mich eines Morgens auf, um mit einem Boot etwas darauf herumzufahren. An einem Ufer lockten die aufdringlichen Bootsbesitzer mit den üblichen Touristen-Phrasen. Da entdeckte ich ein kleines, simples Ruderboot, auf das nur ungefähr zwanzig Menschen auf schlichten Holzbänken Platz hatten. Der Ruderer zeigte auf die anderen Boote, aber ich setzte mich durch. Da fuhren wir dahin, leise und schweigsam, und ließen uns von dem ruhigen Dahinplätschern treiben. Da merkte ich, dass wir irgendwie alle im selben Rhythmus saßen. Wir schauten hierhin und dorthin, wo es etwas zu sehen gab, einen Vogel, ein Haus, Menschen am Ufer, und unsere Köpfe bewegten sich immer in die gleichen Richtungen, wie ein choreographiertes Ballett. Eine tiefe Liebe erfasste mich zu diesen Menschen. Wie schön und ernst sie waren. Die Männer trugen gestreifte Hosen, weiße Hemden und schwarze Jacken, eine Frau trug einen Sonnenhut, der war aus unendlich vielen Metern von Band gelegt, immer im Kreis, sodass man dieses Gebilde, einmal auf dem Kopf, nach unten drücken konnte, wo immer es Sonnenschutz brauchte. Noch heute kann ich die Verbundenheit spüren, die ich mit ihnen auf so natürliche Weise hatte. Es ging ein Schweigen von ihnen aus, auf dessen Grund viele unerzählte und wenig gehörte Geschichten lagerten in einer bodenlosen Tiefe, die den Worten nicht mehr zugängig war. Mein Freund hatte auch einen Diener, ohne den er nicht leben konnte, Juan, der war auch so. So still und von einer Güte beseelt, die ich auch in Indien nur von den Ärmsten kenne. Dann brachen eines Tages, es war kurz vor meiner Rückreise, die Unwetter aus, es schüttete ununterbrochen, Hänge bewegten sich talwärts, 24 Brücken  brachen ein, es gab keine Straße mehr, auf der man sich gefahrlos bewegen konnte. Die Mauern des Gartens schienen sicher, dann floss das Wasser über sie hinweg und sammelte sich unter den Fenstern, und stieg und stieg. Dann hörte es plötzlich auf. Jetzt musste ich an all das denken, als ich von den Vulkanausbrüchen hörte. Sehr arme Menschen, die sich dort in der Nähe des Vulkans angesiedelt hatten. Ach, sagte der Sprecher der Regierung, es gab wohl Aschewolken undsoweiter, aber man ahnte nicht die Dringlichkeit einer Evakuierung. Ein heißer Lavastrom ergießt sich über die Dörfer und über die Menschen. 200 von ihnen werden noch vermisst. Weiß überhaupt jemand, wie viele da gelebt haben? Dann geht es schnell weiter. Bundestagssitzung. Fußball. Klar, was sonst, alles geht einfach immer weiter. Ich brauche manchmal auch Worte für mein eigenes Innehalten. Einen Raum für die Trauer, die mit dem Menschsein einhergeht.

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