Siegfried Lenz

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Das hätte ein Grieche zur Zeit des Platon hören müssen, ein Mann im antiken Rom oder ein florentinischer Zeitgenosse der erlesenen Medici: Man hätte ihnen einmal sagen sollen, daß unser Leben durch Arbeit geadelt, versüßt oder sogar geheiligt werde; man hätte ihnen gegenüber behaupten sollen, daß der Inbegriff des menschlichen Lebens in der Leistungssteigerung liege – ich fürchte, all die kulturbegabten und kulturstolzen Leute von einst hätte es geschaudert. Sie wären in Versuchung gekommen, diese Ansicht für eine krankhafte Besessenheit zu halten, eine Form undiskutabler Verrücktheit. Generationen aufgeklärter und produktiver Müßiggänger hätten durch nichts tiefer erschreckt werden können als durch die heute sprichwörtliche Behauptung, nach der Arbeit unser Leben versüßt. Denn sie maßen das Niveau einer Kultur unter anderem auch daran, wie hoch die Muße, das aktive Nichtstun, eingeschätzt wurde.

Galt es einst als Zeichen von Urbanität, von Lebensmeisterschaft, wenn man seine Muße hervorkehren und sie gleichsam als Gewinn „ausstellen“ konnte, so gilt es heute als zeitgemäß, wenn man sich auf seine Arbeitslast beruft, seine Arbeitswut hervorkehrt. Niemand wird übersehen, wie genüsslich überbeanspruchte Leute von ihrer Erschöpfung reden. Die Leute haben nicht mehr ihre Arbeit, sondern die Arbeit hat sie, und je härter und heftiger man schuftet, desto größer sind oftmals die Genugtuungen. In gewissen Kreisen wird denn auch über den Herzinfarkt gesprochen, als handle es sich um einen Ritterschlag, um die Aufnahmegebühr in einen Orden der Rastlosen, der entschlossen ist, sich der Arbeit zu opfern. Wir haben wirklich keinen Grund, über Stachanow zu lächeln; Stachanow ist bereits in uns, er ist eine Schlüsselfigur dieser Epoche, sein Name läßt sich auch amerikanisieren.

Weil die Arbeitswut eine weitgehend internationale Erscheinung ist und ohne Rücksicht auf politische Systeme besteht, darum ist eine Verteidigung des Müßiggangs heutzutage bereits ein müßiges Unternehmen: Es ist verschwendet, es muss wirkungslos bleiben – eine Feststellung übrigens, die nur von einem Mann getroffen werden kann, der seinerseits von der Arbeit besessen ist.

Denn natürlich wird ein leidenschaftlicher Müßiggänger nicht nach Wirkung und Zweck fragen, nach kalkuliertem Nutzen, vielmehr wird er sich gerade für das erklären, was ihm verschwendet erscheint, er wird das Müßige als das einzig Schätzenswerte ansehen. Und das bezeichnet nun auch die Qualität seines „Tuns“. Es ist nicht blinde Geschäftigkeit, die nur die Zeit füllt oder an einem Zweck gemessen wird, sondern schöpferische Nichtarbeit, produktives Träumen, eben: Müßiggang.

Das hat keineswegs etwas mit Faulheit zu tun. Faulheit im einfachsten Sinne ist zunächst nichts anderes als die tatenlose, ermattete Freiheit von der Arbeit: Man lebt ohne Kraft zur Entscheidung wie Oblomow, bis man von sanftem Schlagfluss heimgesucht wird. Dem Müßiggang hingegen liegt eine definitive Entscheidung zugrunde: Man ist bereit, das Nichtstun auszukosten, auszubeuten, auf absichtslose Weise aktiv zu sein. Somit ist Müßiggang alles andere als eine Ermattung des Geistes. Der verständige Müßiggänger lehnt es ab, sich mit Betriebsamkeit zu betäuben, da er es durchaus bei sich selbst aushält. Pascals Bemerkung, dass „alle Leiden des Menschen daher kommen, dass er nicht ruhig in seinem Zimmer sitzen kann“, trifft auf ihn nicht zu. Er kann lange ruhig sitzen, und er kann staunen. Und vielleicht ist dies das überzeugende Geschenk des Müßiggangs: die Gelegenheit zum Staunen, die uns gewährt wird. Wer aber staunt, wer sich selbst aus bescheidenem Anlass wundert, der beginnt unweigerlich zu fragen, und wer Fragen stellt, wird zu Schlussfolgerungen gelangen: Der Müßiggang wird zu einem aufregenden Zustand.

Wenn Oblomow seufzt: „Man schläft, man schläft, und hat nicht mal Zeit, sich zu erholen“, dann ist damit doch gesagt, daß der wahre Müßiggang nicht in den Daunen betätigt werden kann. Der Kenner wird immer darauf aus sein, sozusagen in der Welt müßig zu gehen: An Flüssen und in Kneipen, auf Behörden und belebten Straßen, überall dort, wo anscheinend etwas geschieht. Ausgerüstet mit besonderen Möglichkeiten der Wahrnehmung, wird der Müßiggänger das, was geschieht, in seiner Art befragen und durchschauen, vor allen Dingen aber dem geschäftigen Leerlauf ein Beispiel geben: Ein Beispiel nämlich für den Rückfall in die Weile. Der Überfluss an Zeit, an Weile, ist der sichtbarste Reichtum des Müßiggängers, und indem er ihn zeigt, macht er auch schon unser Verlangen nach Kurzweil fragwürdig. Aber dieser ganz bestimmte Überfluss ist es auch, der eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Kultur gespielt hat.


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