aus Versehen verhören

Wie schnell kann man sich verhören oder versehen, und merkt es meist gar nicht, denn auch zum Hören und Sehen gehören bestimmte Bedingungen und Eigenschaften. Auch ist das flüchtige Ohr und das schweifende Auge nicht unbedingt etwas, das man ablegen muss, denn ständig fordert das eigene System von einem, bestimmte Entscheidungen zu treffen, die vom Willen geklärt werden können. Wann will ich etwas hören und wann nicht? Wann will ich genauer hinschauen, und wann ermüdet der Blick, weil das Gesehene nicht anspricht oder resoniert. Eigentlich ist man mit dieser subtilen Akrobatik ständig beschäftigt. Als Kind schon lernt man solche Künste, die oft mit Schrecken verbunden sind. Man lernt das Weghören und erleidet den Mangel an Gehörtwerden. Manchmal sieht man Mütter, die beim Kinderwagenschieben mit ihrem Handy beschäftigt sind. Es ist ja nicht so, dass das Kind ständig betrachtet werden muss, aber beim Beobachten solcher Neuheiten kann sich ein unwohles Gefühl einschleichen, denn Mutter und Kind gehen nicht mehr durch dieselbe Welt. Menschen mit Ohrstöpseln sind allgegenwärtig geworden. Als dieses woanders Hinhören in Indien anfing, hat mich manchmal interessiert, was sie denn da so hören. Beim morgendlichen Gang um den See sind es oft Mantren, die ins Ohr rezitiert werden. Man erhofft hier wohl eine direkte Transzendenz. Das ist sehr tricky, denn man hört die stattfindenden Geräusche nicht mehr, was immer häufiger dazu geführt hat, dass Menschen überfahren werden, weil sie das Hupen oder den heranfahrenden Zug nicht gehört haben. In den Workshops der Welt ging es viel um das Wesen des Zuhörens, und TeilnehmerInnen kamen nach Hause und übten eine Weile an oder mit ihren Partnern. Ist der Andere nicht im selben Kurs, wird es schwierig. Klischeehaftes Verhalten ist durchaus Norm. Man will gehört und gesehen werden. Essere es percipi. Langsam merkt man, wie komplex das alles ist. Wie tief und authentisch ist das Interesse am Anderen. Will man denn wirklich wissen, was sie so sagen, die Gegenübersitzenden, und wie weiß man, wer sie sind? In manchen Ohren kann ein tieferes Interesse klingen wie ein Verhör, wenn man nicht gewohnt ist, sich auch mal ernsthaft einzulassen, um der Flüchtigkeit eine Grenze zu setzen. Gestern hörte ich aus dem Freundeskreis eine kleine, simple Geschichte , in der eine Frau während eines offiziellen Dinners mit ihrem unbekannten Tischnachbarn ein so angeregtes und langes und intensives Gespräch führte, dass sie sich am nächsten Tag bei ihm meldete, um zu sehen, wie es nun weitergehen würde. Er sagte, er wolle nie mehr mit ihr reden, denn sie würde alles nur negativ sehen. Sie war so entsetzt, dass sie ein Buch darüber schrieb, das ich vermutlich nicht lesen werde, denn die kleine Anekdote sagt schon viel aus. Was um Himmels Willen war geschehen? Wir können niemals wissen, was im Anderen vor sich geht, auch wenn wir uns als Top-Menschenkenner empfinden. Erst wenn wir selbst bestimmte Erfahrungen in uns wahrnehmen und sie aussprechen, ist der Andere, wenn er kann und will, befähigt, seine eigene Wahrnehmung dazu kund zu tun. Wenn das stattfinden kann, sind wir schon fast im Garten der Freundschaft, wo Ehrlichkeit und Offenheit geschätzt werden, und die Angst voreinander durch erworbenes oder gewährtes Vertrauen gemindert und gelindert ist. Wie lange es dauert, bis wir wirklich begreifen, dass jeder Mensch bei allen garantierten Übereinstimmungen eine vollkommen andere Welt sieht als ich selbst, und dass dieses Anderssein der Grund und Anlass sein kann für eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine Bereitschaft, über das eigene Sehen und Hören Aussage zu machen, damit wir ein bestimmtes Maß des Verstehens und des Verstandenwerdens erreichen können, das uns aus der Isolation unseres Verhörens und Versehens bringt und direkt in das Wunder der Vielfalt.
Das Bild zeigt eine Lichtreflektion auf dem Fell unserer Katze.

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