Muttersprachentag

Wenn ich es richtig verstanden habe, ist heute der Tag der Muttersprache. Weil ich ganz nebenher gern mal wüsste, wer das eigentlich bestimmt, schaue ich nach. Zum 24, Mal wird er wohl begangen, begangen ist ein auffallend seltsames Wort. Und ich erfahre, dass es weltweit 6.700 Sprachen gibt. Das erstaunt mich nicht, denn ich bin die Anzahl der Sprachen auch von Indien her gewohnt, wo es für reisende Inder in ihrem Land einfacher war und ist, sich auf Englisch zu verständigen, als der sprachlichen Komplexitäten  Herr zu werden. Dieser heutige, von der UNESCO ausgerufene „Gedenktag“ betrauert also die vielen aussterbenden Sprachen und Dialekte, wobei es einen gravierenden Unterschied gibt zwischen forciertem Vergessen und dem schleichenden Verschwinden einer Sprach-oder Denkart. Aber so ein Ausrufen gibt ja auch Gelegenheit, im eigenen Schicksalspaket nachzuschauen. Auch wenn ich Deutschland in frühem Alter verlassen habe, habe ich niemals meine Sprache zurückgelassen. Stets war sie dabei, sich ansammelnd in einem ununterbrochenen Fluss von Notizbüchern, und gerne hätte ich in den darauf folgenden Jahren als Heimat mein Notizbuch genannt. Ja, klar, höre ich auch zuweilen die Sprache meiner Mutter, es wurde viel geredet, wenn sie mal zuhause war und nicht in Milano oder Paris. Aber dann, wenn ich wieder allein war, konnte ich mir Bücher meines Vaters in mein Zimmer holen und mich vertraut und trunken machen mit der schönen Sprache. Was für ein unermessliches Glück!, in diesem Land geboren zu sein und sie automatisch zu lernen, und dadurch später nicht nach Übersetzungen gieren zu müssen für die Geister, die man sonst nie direkt hören könnte. Auf diesem Weg spreche ich wohl eher die Vatersprache, denn da, in den Büchern, entzündeten sich meine persönlichen Anlagen, und noch heute bin ich zutiefst dankbar für die Anregung und den rechtzeitig angebrachten Filter. Aber dann: die Mutter! Wer weiß, was sie einem alles zugeflüstert hat, als keiner dabei war, nur sie und man selbst, wie eine Katze die Ohren spitzend in die Gerausche hinein, hinein in das Große Murmeln der Weltmuttersprache. Und erleben wir nicht gerade, wie unsere Sprache an Präzision und Klarheit verliert, und wie ungeheuer albern es sein kann, Worte lernen zu müssen, die man gar nicht benutzen will, sich ansonsten aber nicht verständigen kann. Mensch, es ist Zeit! Die Sprachen sterben, und sieh dich um: es ist in allem.  Und doch: mich hat sie gerettet (auch Sprache kann retten). Aus  abgründigem Urdunkel heraus hat sie mir, nennen wir’s eine Leiter, gebaut und mich befreit von den historischen Zwängen. Die Worte haben mich aufgefangen und in die Sicherheit des Ungewissen geführt.

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