Strebungen

Nicht nur gibt es den Sog, aus sehr unterschiedlichen Interessensgebieten hervorkommend, in die Dunkelkammern der menschlichen Psyche so tief hinein und  hinunter zu blicken wie nur möglich, sondern dieselbe Strebung gibt es nach oben und zuweilen mit einer unsäglichen Intensität gewisse Ebenen anstrebend, von deren Existenz es nur wenige Zeugen oder Zeuginnen gibt, die den jeweils üblichen Rahmen ihrer Gesellschaftssysteme überschreiten konnten, um von diesen Welten Kunde zu tun. In Indien zum Beispiel ist der Begriff des „Heiligen“ gang und gäbe, und noch habe ich keinen Hindu getroffen, der nicht zumindest überzeugt war, dem Göttlichen sehr, sehr nahe, also sozusagen identisch damit zu sein. Come on, sagte Anil eines Tages zu mir, jeder Mensch will doch letztendlich ein Gott sein. Das wusste ich nicht, obwohl mir die offensichtlich genetisch oder klimatisch  bedingte Entgrenzung des indischen Denkens vertraut ist. Es gibt dort auch Gespenster-Austreibungs-Rituale, aber täglich sieht man menschliche Körper, die als Götter verkleidet durch die Straßen ziehen, und wenn einer gut darin ist, wird ihm auch Respekt dafür gezollt. Ansonsten erlebte ich in Gesprächen mit Hindus verschiedenster Ausrichtungen (was ihre religiösen Rituale betrifft) in den letzten Jahren eher eine sich verbreitende Ernüchterung im Angesicht realer Vorkommnisse unter denen, die gerne als „heilig“ betrachtet werden. Man war nicht wirklich erstaunt, denn durch den kreisläufigen Ablauf der Geschichte wusste man, dass die Dinge profan werden und künstlich und ohne authentischen geistigen Antrieb. Aber Achtung, das war auch nicht alles, denn es gibt ein Gegengewicht. Wer aus welchen Gründen auch immer gelernt hat, der kosmischen Ausgewogenheit zu vertrauen, findet hier verhältnismäßig mühelos eine praktische Lösung, ich meine hier durch die Praxis der Kontemplation. Ich selbst muss erkennen, wie und wodurch ich etwas erlebe und erkenne, eben damit meine eigene Substanz im Strudel des Weltgeschehens nicht mitgerissen wird. Auf das „heilig“ kam ich über die Worte einer protestantischen Pfarrersfrau, deren letzte Worte ich vor den Nachrichten noch aus Versehen mitbekam und hörte, dass sie „heilig“ als widerstandsfähig bezeichnete, und dass es dafür notwendig sei, der Weltordnung zu widerstreben. „Heilig“ verstanden als heilend, das fand ich dann doch interessant und entspricht, allerdings über andere Begrifflichkeiten, meinem eigenen Denken. Denn ohne diese ganz bewusste Herauslösung aus der bestehenden Weltordnung kann ich nicht wirklich heilen. Ganz einfach, weil der Blick nach außen nicht der Blick nach innen ist und wir für die Teilnahme am kosmischen Balanceakt beides brauchen, um einerseits beweglich, andrerseits zutiefst konzentriert zu sein auf unsere individuelle Wahrnehmung, die wir wiederum für unsere Handlungsfähigkeit nach draußen brauchen. Wo die Anderen sind und ihre Spielarten.

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