All-Tag

Ich hörte einen Zusammenschnitt (eines Komödianten) von mindestens 15 Moderatoren und Moderatorinnen, die sich gestern auf allen Kanälen darüber wunderten, dass es schon März ist. Leider musste ich feststellen, dass ich mich auch schon darüber gewundert habe, dass es schon März ist. ‚Normalerweise‘ komme ich im März aus Indien zurück, vor oder nach ‚Holi‘, dem orgiastischen Farbenfest, das sich auch im Westen durchgesetzt hat/te. Hatte, muss man hier sagen, denn dieses wilde Gedränge kann man sich gerade nicht vorstellen, obwohl sich vor allem Hindus ungern ihre Feste kürzen oder wegnehmen lassen, denn Rituale sind ihre lebenserhaltende Therapie, ohne die sich wenig anderes vorstellen lässt. Und schließlich ist Frühling, und das gelockdownte Murmeltier reibt sich die müden Äuglein und fragt die Anderen, wie spät es sei. Da merken wir alle wie erstaunt, dass schon März ist. Hinter uns stapeln sich die Archive mit den Inhalten dessen, was reflektiert und gedacht und geistig durchgeackert wurde, obwohl man nur auf die Titelblätter der Zeitungen schauen muss, um zu verstehen, dass Höhlen im Himalaya vorgestern waren, denn (auch) hier werden die großen Fragen jedem gestellt, zu dem sie in irgendeiner Form kommen. Und nun kommt noch Zoom dazu, chatten, posten, zoomen, was das Zeug hält, und dadurch morphen, was bedeutet, dass man etwas so verändern kann, dass etwas Neues entsteht. Ein neues Bild, ein neuer Gedanke, eine neue Sicht, eine neue Wahrnehmung. Die Menschen, sagte ein Politiker, wollen in den Alltag zurück, was mich zu der Frage bewegte, wo sie denn wohl jetzt sind, wenn nicht im Alltag. Immer ist Alltag, das kann man nicht von vielem behaupten. Obwohl, wenn der Mensch als Spezie verschwände, würde auch der Begriuff  ‚All-Tag‘ verschwinden, obwohl er es auf eine abstrakte Weise immer noch wäre und voller Bedeutung für alles, was dann noch da wäre. Der Ruf nach einem Alltag beinhaltet dann noch die Vorstellung, eine Art Alptraum würde sich plötzlich in ein Lichtermeer verwandeln, wenn man daraus erwacht. Wo all das, was so gut war, wiederkehrt, damit es wieder verzehrt werden kann, oder die langen, unwürdigen Nackenhaare wieder von der richtigen Hand geschert werden können, ach, und all die alten Leutlein mit ihren Silberlöckchen, endlich wieder unter Menschen. Klar habe ich mich ein bisschen mitgefreut, dass die Friseure sich einen Sonderauftritt erschaffen haben, um ihre Systemrelevanz zu offenbaren. Jedes gute Theaterstück braucht solche Szenen, wo man gerührt ist, dass der freundliche Friseur  um Mitternacht den ersten Kunden und Kundinnen Konfetti entgegenwirft, damit man merkt, wie tief die Rassismus-Runen aus den Adern der Ahnen strömen, und fast unbemerkt kann man kleine Schalthebel umlegen und wieder vorwärts schauen. Sicher ist, dass niemand diesen Winter vergessen wird, auch wenn es so weitergeht, wie es bisher auch weiter ging im Rahmen der Grundausstattung: Es war ordentlich kalt, es gab Schnee, und jetzt hört man das faszinierende Schreien der Wildgänse, die in langen, meisterhaften Formationen über uns hinwegziehen. Tatsächlich: es ist März!

 


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