trauern

Die erste Mail kam sehr früh am Morgen aus Indien mit der Botschaft, dass Om Prakash, der Mann, den man im Bild sieht, im Krankenhaus von ‚uns‘ gegangen ist, wenn ich es mal so sagen kann. Seine Enkelin hatte mir erst gestern versichert, er würde bald nach Hause kommen und es ginge ihm schon besser. Er wurde nach einem positiven Virus -Test eingeliefert, hatte dann eine Lungenentzündung und ist wohl vor ein paar Stunden an einem Herzinfarkt gestorben, um 3 Uhr früh am indischen Dienstag, als bei uns noch später Montagabend war. Ach, was für  ein Verlust, für einen Moment konnte ich mir Indien ohne ihn gar nicht vorstellen. Jahrelang hatte ich mir angewöhnt, ihn beim Vorübergehen an seiner Tür zu grüßen, weil die meisten Vorübergehenden ihn freundlich grüßten und ich fand es auch schön, ihn zu grüßen. Das indische Kastensystem hat ja schon immer zu viel kontroverser Diskussion angeregt, aber ebenso, wie es die stolzen Könige unter den Rajputs gab und den gerissenen Händler, und dann die schrecklichen Gänge nach unten in die Vorhölle oder tatsächlich die Unterwelt der Unberührbaren, so gab es eben auch den klassischen Brahmanen, der unter einem extrem hohen Anspruch lebte, den in meiner Zeit dort kaum mehr einer erfüllen konnte. Denn es erforderte gewisse moralische Maßstäbe dafür, eine klare Entscheidung, sich hauptsächlich mit geistigen Dingen zu beschäftigen, und eine Erwartungshaltung der Gesellschaft, dass diese Praktiken auch sichtbar werden sollten im Alltag. Insofern gehörte Om Prakash zu einer aussterbenden Art, und ich persönlich kannte nur noch einen einzigen anderen Menschen, der sein Leben auf der Höhe dieses Anspruchs verbrachte, und der letztes Jahr, auch plötzlich und unerwartet, gestorben war. Dann wurde mir auf einmal vor ein paar Jahren durch eine freundschaftliche Verbindung das Haus am See angeboten für meinen Aufenthalt dort, was ein wunderbares Mittendrin in der indischen Gesellschaft ermöglichte, und eine Nähe zu der Familie von Om Prakash, denn es war ihr Haus. So traf ich ihn weiterhin täglich bei meiner Rückkehr vom See, und immer stand er da vor dem Haus oder saß manchmal in einem Stuhl und kommunizierte mit sehr vielen Menschen. Ich freute mich immer auf diese Momente, denn er hatte eine bemerkenswerte Gelassenheit erreicht und sein offener und kluger Geist garantierte und generierte stets ein Wohlgefühl. Im indischen Familiensystem ist man an einem bestimmten Punkt, wenn alle Lebensaufgaben gut erledigt wurden, wieder ein freier Mann oder eine freie Frau und kann, wenn man kann, tatsächlich machen, was man möchte, zum Beispiel reisen oder heilige Bücher lesen (wenn man das als freies Tun betrachtet). Manchmal hatte ich auch den Eindruck, er konnte es drinnen beim strengen Erbsenpuhlen nicht so gut aushalten, und der Gutheitszwang kann durchaus zu Erstarrungen führen. Am Abend kam ich öfters mal herein in die Familie, saß einen Moment, um mich meistens mit ihm zu unterhalten, denn der Rest der Familie starrte wie überall bereits auf die Abendprogramme des Fernsehers, und irgendwie passte Fernsehen nicht ganz zu ihm. Aber jeder weiß ja, wie lang Abende im Winter sein können, und meistens hatten er und seine Frau ein Öfchen mit glühenden Spiraldrähten zwischen sich stehen. Sie kannten sich so gut, dass es wenig Worte brauchte, aber vielleicht waren sie auch ausgegangen. Als Shriya, seine Enkelin, mich vorgestern vom Krankenhaus aus anrief und fragte, ob ich mit ihm oder besser zu ihm sprechen wollte, habe ich das getan und irgendwas, was mir einfiel, zu ihm gesagt. Er hat auch was gesagt, aber ich konnte es nicht verstehen. Jetzt ist er nicht mehr da. Ich habe dieses eine Bild (oben) von ihm gehabt, das mir sein Sohn mal geschickt hat. Diese Gitterstäbe am Haus sehen jetzt für mich aus wie Trauerränder an einer Todesnachricht. Mir helfen die Worte zu spüren, wie tieftraurig ich bin, und was für ein Verlust so ein Mensch im eigenen Leben sein kann.

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