Das Hervorholen

Dass Worte gehört werden, ist eines, aber dass Worte zu einem durchdringen und etwas in einem auslösen oder etwas inspirieren oder irritieren können, etwas anderes. So hat mich das Wort „hervorholen“ während eines Gespräches geradezu elektrisiert, denn es beinhaltet eine Bewegung. Obwohl natürlich von grenzenlosem Hervorholen aus dem Weltreichtum berichtet werden könnte, was in gewissem Sinn das Netz bestens leisten kann oder eine Enzyklopädie, denkt man bei „hervorholen“ eher an innere Welten oder eine innere Substanz, von der man gewohnt ist, sie als sich selbst zu bezeichnen. D a s bin ich. Daher die offensichtlich darauf folgende Frage: was ist das, was so locker als „Ich“ bezeichnet wird. Die Inder hatten für sich eine lange andauernde, gute Lösung gefunden. Das Ich war verpönt, und da es auf Hindi „mai (mäh) heißt, wurde es mit dem Meckern einer Ziege verglichen. Diese kollektiv erworbene und praktizierte Einstellung, die vor allem dem Wohl des Gemeinsamen dienen sollte, also der Großfamilie oder den Mönchsbruderschaften, stellt nun gemäß einer rigorosen Veränderung durch die digitale Revolution das größte Hindernis der Hindus dar. Sie haben überhaupt keine Wahrnehmung ihrer eigenen, persönlichen Geschichte, und noch gibt es dafür keine entwickelte Methode außer dem Gehorsam übermittelter Weisheiten gegenüber, von denen man ausging, dass sie durch Verstehen und Ausüben Früchte tragen werden. Auch wurde mir mal berichtet, dass auch ein Mann in der Familie, bevor er fünfzig Jahre alt ist, keine persönliche Entscheidung trifft. Das müsste auch gar nicht sein und könnte seelenruhig so weitergehen, gäbe es nicht auf einmal durch die gravierenden Veränderungen und Herausforderungen der Zeit einen Ausbruch an Krankheiten, Zuständen, Einbrüchen und Zusammenbrüchen, kurz: eine Menge Störungen, die in die Seelenruhe eingreifen und durch die neuen Infragestellungen neue Beantwortungen hervorrufen. Nun erst kommt es zur Bewusstwerdung des Inneren, heißt: innerer Zustände, die im kollektiven Rahmen keine Beherbergung mehr finden. Wer bin ich in dem ganzen Trubel, jetzt auf eine nie gekannte Weise allein, und was ist innen und wie kommt man da hin. Und ist das, was ich vorfinde, auch das, was nicht nur i c h sage und finde, sondern das seine Resonanz finden kann in bereits Erfahrenem, indem man hingewiesen wurde und wird irgendwo oder irgendwie, dass das, was man innen vorfindet, nicht notwendigerweise auch das ist, was ich „wirklich“ bin. Die Entstörung der Psyche ist Hauptarbeit an der Quelle im Osten wie im Westen, auch wenn die Wege oft sehr verschieden erscheinen. Was mich in Indien angeregt hat, war ein spürbar leerer, kosmischer Seinsraum, unter dessen Obhut Menschen ihre Ordnungen erschufen gemäß vermittelter Gesetzmäßigkeiten, die praktisch erprobt waren. Der noch schlummernde Ich-Durchgang schien keineswegs ein Nachteil zu sein, ja, eher das, was wir alle suchten, die wir, von unserer Art der Icherfüllung reichlich übermüdet, in Indien eine Atempause fanden. So wie einerseits die mangelnde Ichbewusstheit zu Grenzen führt, so führt auch die Ich-Erforschung zu Grenzen, denn auch die stattfindende Entstörung will bewusst wahrgenommen werden, sodass wir eines Tages auch einmal wissen werden können, was gestört und was nicht mehr gestört ist. Das Hervorholen aus der persönlichen Geschichte ist ein endloser Vorgang und unterliegt denselben illusionären Erscheinungsformen wie alles andere. Es dient, aber es ist nicht die Quelle selbst in ihrem Eigen-sein. Das Ablassen von persönlicher Hervorholung hat man den Indern beigebracht, jetzt ist der große Achsenumschwung da, der sich im Westen auf westliche Weise vollzieht.  Was hole ich als einzelnes Individuum aus mir hervor, bzw. lasse die Hervorholung mal sein. Wenn Liebe tatsächlich der Verzicht auf Mord ist, wie stelle ich meinen Kompass ein, damit er mich durchträgt durch die Ungeheuerlichkeiten. Und wann, wenn ich innere und äußere Vernichtungstendenzen so tiefgründig wie möglich durchkontempliert habe, höre ich auf mit der Vernichtung des Wesens selbst, oder aber mit der stillen Beteiligung an den Vernichtungstendenzen.

 


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