einschätzen

 

Als die Me/too-Debatte auf Hochtouren lief, war ich in Indien und überrascht, auch da hellwache Frauen zu treffen, die sich mit ihren Erfahrungen eingeklinkt hatten, und sicherlich wird es auch bald die Frage geben: was ist denn eigentlich aus dem ganzen Prozess geworden? Es ist ja auch das Recht jeder Frau, nichts damit zu tun haben zu wollen, oder zu denken, das geht sie nichts an, weil sie in ihrer persönlichen Welt einigermaßen zufrieden eingerichtet ist. Immer wieder trifft man auf zwei Sichtweisen, die den eigenen Weg bestimmen und die vermutlich auch die Grundlage zweier Lebensweisen sind, die man in Indien lange Zeit getrennt hat und noch immer trennt. Das eine ist der Familienweg, auf dem man heiratet, Kinder zeugt und die ungeheure und vielfach unterschätzte Leistung, die ständig auf das Außen antworten muss, bewältigt, während Eremiten und Sadhus und PhilosophInnen und KünstlerInnen sich aus diesem Konstrukt aus vielerlei Gründen herausbewegen, um dann in anderen Bereichen zu landen, wo Gesetzmäßigkeiten ebenfalls vom Anfang der Menschengeschichte an diktiert wurden. Heutzutage verschwimmen zwar die Grenzen zwischen diesen beiden Seiten, die m.E. vor allem auf persönlicher Geschichte und Anlagen beruhen, aber ich frage mich, ob sie wirklich aufzulösen sind. So ziemlich jede/r kann Kinder haben wollen und eine Familie gründen, und auch die Anlagen für meditatives Sitzen und Reflektieren sind vorhanden, auch wenn es z.B. beim Angeln geschieht oder bei anderen Tätigkeiten, wo hohe Konzentration erforderlich ist. Bei dem jungen, indischen Paar, das gerade bei uns zu Besuch ist, kann ich sehen oder auch von ihnen hören, wie ungeheuer stark verwurzelt sie sind, bei aller ungewöhnlich „freien“ Handhabung  ihres Lebensstils, mit den gängigen Formen ihrer Tradition. Sie macht gerade ihr Ph.D., kann aber ganz offensichtlich ihren Intelligenzgrad schwer einschätzen. Gut, wer kann das schon, aber man muss Intelligenz nicht unbedingt verweigern. Auch frage ich mich immer mal wieder im Kontakt mit Frauen, ob ihnen eine gewisse Selbsteinschätzung nicht wesentlich erscheint, ich meine jetzt weder die Überschätzung noch die Unterschätzung. Die junge Frau ist ein herrliches Beispiel von vielen „weiblichen“ Faktoren, eine herzlich und simpel gelebte Sinnlichkeit, die das Kochen genießt und kein Problem darin sieht, von ihrem Mann permanent kommentiert zu werden. Eigentlich, sagt er, ist sie sehr intelligent, aber sie benutzt die Intelligenz nicht. Ich lerne nebenher, wie nutzlos unser aller Kommentieren ist, wenn die andere, die kommentierte Person, ein völlig anderes Selbstverständnis davon hat. Diese „sie“ isst und kocht nicht nur super gerne, sondern sie ist mit Lust und Laune kindlich und kindisch, das löst ein gewisses Staunen in mir aus und ich sehe, dass auch ihr Mann mit diesem leicht verlegenen Staunen auf sie schaut. Ich kann das drei Tage herzlich gerne sein lassen und auch genießen, dann werde ich früher oder später nervös. Mir fehlt das Verständnis dafür, dass Menschen, aber vor allem Frauen, sich durch weibliche, wenn auch tausend Jahre alte, Maskerade der Verantwortung des lebendigen Seins mit sich selbst entziehen durch Verweigerung der zugegebenerweise ziemlich anstrengenden Bewusstseinsprozesse um die leidige Frage „wer bin ich eigentlich? herum. Nicht, dass es irgendeine Kraft im Universum gibt, die darauf den vorgezogenen Wert sieht, nein, Jede/r kann und muss und will doch mit dem eigenen Schicksal umgehen nach Notgedrungenheit und Belieben. Aber immerhin geht es hier um ein großzügiges Angebot des universellen Raumes selbst mit seinen herzerfrischenden Gesetzmäßigkeiten: Das Sich-selbst-erkennen-können ist doch kein Zwangsprojekt. Jede/r kann und muss selbst entscheiden.

Meine Bilder überraschen mich gerade selbst. Seit ich in meinen Pinseleien wieder Gesichter zulasse, sprechen mich Geschichten an, die in die Urzeit zurückführen, bevor sie sich wieder mit meiner eigenen Geschichte in Kontakt setzen, was nicht heißt, dass ich das jeweils gleich verstehe.


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