geboren

Feiertag. Ich feiere innerlich den Tag der Geburt und das Überleben eines Mannes, dem ich zuerst kurz nach seiner Geburt begegnet bin. Ich war nach New York gekommen mit einem flammend leidvollen Auftrag an einen Mann, den Vater des Kindes. Er und die Mutter befanden sich inmitten des Trennungsprozesses. Nur wollte sie das Kind, das sie gezeugt hatten, auf einmal nicht mehr haben. Sie hatte bereits einen japanischen Ehemann und ihre fünf Kinder in Los Angeles gelassen und wollte nun zu ihnen zurück. Sie schob mir an der Türe das vor Kurzem geborene Kind in die Arme und sagte: Ich will es nicht. Das war Raphael, einst geboren am 31. Mai. Auch ich konnte nicht seine Mutter sein, weil ich aufgewühlt war von einer Trauer um den Verlust eines Menschen, der mir nah gewesen und unter ungünstigsten Bedingungen zu Tode gekommen war. Raphaels Vater und ich waren nach gemeinsamer Arbeit und der Ausführung des Auftrages  auf dem Weg nach Indien und landeten in Kathmandu, bauten dort ein Leben auf und die junge Babysitterin, die wir vorübergehend engagiert hatten für das Kind, wurde seine Mutter. Raphael und ich sind uns einmal begegnet, der potentielle Sohn und ich. Er hat mich besucht hier im Haus und machte mir klar, dass ich ihm seinen Vater weggenommen hatte. Genau bei diesem Besuch zeigte sich, dass wir tief verbunden waren und sind. Es hatte nichts mit körperlichem Blut zu tun, eher mit dem poetischen Blut des Erkennens. Wir waren wie zwei Fremdlinge, die überrascht waren, auf einmal auf den archaischen, unwegsamen Straßen des Seins miteinander wandern zu können ohne Furcht, verbunden mit der Sprache der Sprachlosen. Es war eine Zeit, in der ich noch offen war für den Flügelschlag der Engel, und mochte besonders die mit dem Buch, und die mit dem Schwert, und die dunklen, verheißungsvollen. Man konnte die eigenen Flügel schmerzhaft spüren. So war es in dieser tiefen Begegnung nicht das Leid, einen Sohn verpasst zu haben, sondern die Umstände erlaubten es mir, ihn tatsächlich als Sohn begrüßen zu dürfen. Nach dem Tod seines Vaters fing ich an, nach ihm zu suchen und ließ Freunde in New York nach ihm fahnden. Letztes Jahr meldete sich auf einmal ein Mann bei mir und bat mich um einen Beitrag für ein Buch über Raphaels Vater. Er hatte die Adresse von Raphael und schickte sie mir. Es dauerte eine Weile, bis ich den Mut hatte, mich zu melden, bis ich eines Tages dann doch zum Hörer griff. Es war der 31.Mai, sein Geburtstag. Das Datum war nie zu mir durchgedrungen, lange war seine Geschichte wie ein Nebenstrang meiner Geschichte, und es war dann auch so, dass der Vater zurück musste zu seinem Sohn. Sie haben an ihrem Schicksal noch schwer gearbeitet. Jetzt gibt es noch seine Mutter, die ihn geboren hat, und seine Mutter, die ihn aufgezogen hat, und mich. Er hat auch ein paar Lorbeeren hängen im Haar. Heute hat er Geburtstag.

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