notwendig

„Notwendig“ ist das passende Wort, wenn etwas getan werden muss, das andernfalls zu einer Not führen würde, und auf jeden Fall zu Spannungen in den familiären Beziehungen. So sitze ich also gestern mit vier Anderen im Auto nach Merta City. Aus dem Radio tönen die neuen indischen Schlager, nicht übel, muss ich sagen. Die Inder sind berühmt und berüchtigt für ihre Kopierexzellenz, aber das ist oft nur eine Basis für sie, um noch besser zu werden als die Kopie. Der Sound ermöglicht es dann, mich näher über die Tote und die Umstände ihres Todes zu unterhalten. Wir sind auf dem Weg in eine andere Religionsgemeinschaft, die Jain Gemeinde, deren Tempel wirklich sehenswert und beispiellos schön sind. Im Gegensatz zu den Hindu Ritualen (Jains sind auch Hindus, aber eben Jains) verabschieden Jains die Toten nur drei Tage, nicht die ellenlangen zwölf bei den Hindus, für die eh keiner mehr die Geduld und Zeit hat. Sobald wir ankommen und wegen der engen Gassen das Auto entfernt parken müssen, pilgern wir durchs mittelalterliche Dorf, eine willkommene Abwechslung, vor allem ich, für die EinwohnerInnen. Begleitendes „kanafusi“, Flüstern. Dann sehe ich Ayesha zum ersten Mal nach Monaten, aber sie signalisiert mir sofort, dass ich sie erst umarmend begrüßen darf, nachdem ich im Tempel war, denn sie hat ihre Tage und darf nun alles Mögliche nicht, auch kein Kochen. Dann geht das Tempelwandern los. Erst sitzen wir, immer auf dem Boden natürlich, eine Stunde lang mit der Jain-Gemeinde in einem kalten Raum, dessen Wände geschmückt sind mit Photos der Mönche und Nonnen, die alle Mundschutztücher tragen, um kein Leben auszulöschen. Sie gehen nur zu Fuß und tragen dabei eine Art Wedel, mit dem sie die Straße kehren, wenn sich da was bewegt. Wir sitzen also rum vor dem Bild der Verstorbenen, deren Körper sich bereits in Asche aufgelöst hat, und ihr Sohn wirkt leicht traumatisiert, weil er sich ein Leben ohne Mutter noch gar nicht vorstellen kann. Ich sehe in Ayeshas Blick einen Hauch von Verachtung.  Gut, während der ganzen Zeit unseres Herumsitzens sitzt der Mönch oben im Bild regungslos auf seinem Stuhl. Ich photographiere ihn hinter dem Rücken einer Frau, und selbst, als wir uns alle mühsam wieder erheben und zum nächsten Tempel wandern, sitzt er immer noch da. Die Männer sind (wie meistens) voraus gegangen und wir müssen warten auf der Straße, bis sie aus dem Tempel kommen und wir reinkönnen. Ab und zu frage ich mal eine Frau nach dem weiteren Programm, aber niemand weiß es, denn wir bilden eine Art morphologisches Feld, eine schläfrige Formation, die gelernt hat, in zusammenhängenden Bildern zu funktionieren. Tempel II besteht wie viele Jain Tempel aus weißem Marmor, in jeder Nische ein Marmor Yogi mit offenen Augen, kahl und sparsam, nur der Chef trägt eine Goldkrone. Wieder sitzen alle herum, bis es vorbei ist. Jetzt kommt das Essen, wieder auf dem Boden in einem anderen, großen Raum, lecker und höchst bekömmlich nach der ganzen Tortur. Wir dürfen dann ja nach Hause fahren, aber Ayesha erzählt mir, dass es am nächsten Tag, also heute, noch eine „function“ gibt, und zwar speisen sie 12 Brahmanen, das ist so üblich, damit die Totenreise gut  läuft. Brahmanen?, frage ich mal wieder eine Vertraute. Brahmanen, erklärt sie mir bereitwillig, kommen gleich nach Gott. Ich muss es wohl nochmal hören. Ihr Gatte läuft die üblichen 10 Meter vor uns her, manchmal Signale sendend, was zu tun und zu lassen ist. Trotz seiner Zeichen kaufen wir alle Gemüse, weil es in Merta die Hälfte billiger ist als bei uns auf dem Markt. Sie zwingen mich, ein Kilo Tomaten zu kaufen, denn ich bin bereits morphiologisiert. Im Auto wird’s gemütlich, weil alle außer dem Fahrer vor Erschöpfung einnicken.

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