reflektieren

In einem Satz, der Sokrates, (der selbst nichts Geschriebenes hinterlassen hat), zugeschrieben wird, sagt er aus, dass seiner Meinung nach ein Leben, über das man nicht nachdenkt, nicht lebenswert ist. Nun gibt es verschiedene Formen der Reflektion. Die philosophische Reflektion z.B.lässt zwar das eigene Erleben nicht aus, bemüht sich aber um ein Erkennen, das Menschen, denen das fremd ist, oft „abstrakt“ erscheint, so als wäre dieses Denken nicht übertragbar auf das persönliche Leben. Natürlich wäre es nicht uninteressant, Sokrates heute ein paar persönliche Fragen stellen zu können, die damals noch nicht so aktuell waren. Es ist ja nicht nur unnütz, auch mal zu bedenken, warum er wohl geheiratet hat, und wo war diese mit schlechtem Ruf behaftete Alibi-Frau, als er den Giftbecher trank? Und wenn man sich mit den Kindern von Sokrates auch noch hätte beschäftigen müssen, den zum Glück nicht existierenden Ahnen des –  männlichen Lenden zugetanen – Giftbechertrinkers? Auch damals schon hat die Liebe die Menschen bewegt, vor allem, wenn sie in der glücklichen Lage waren, Muße und gesellschaftliches Ansehen zu genießen, da Arbeit im antiken Griechenland noch sehr anders definiert wurde. Wir wissen ja auch nicht, wie die, die damals in der brütenden Sonne nicht im Schatten der Bäume ungestört reflektieren konnten, sich gefühlt haben, und wie „faul“ den Schuftenden wahrscheinlich diese herumlagernden Gesellen vorkamen, deren gedankliche Ergebnisse bis heute in den Schulen gebüffelt werden müssen. Es kamen ja auch immer wieder welche nach, die das bis dahin geltende Weltbild zerlegten und neu formierten gemäß der Wahrnehmungen der Zeit, in der sie sich bewegten. Denn es ist  vor allem das Bewusstsein des Menschen, das sich wandelt, indem die Wirkung jeweiliger Erkenntnisse den Sog bildet, der dann, von Einzelnen ausgehend, nach und nach Kulturen und Gesellschaften gestaltet. Die beliebte Frage „Was ist Freiheit“ hat ja vor allem als Antwort damit zu tun, ob ich in einem Raum lebe oder ihn selbst erschaffen helfe, in dem eigenes und selbstständiges Denken überhaupt stattfinden kann, sodass es darauf hinauskommt, dass, je mehr Menschen solche Zeiträume als förderlich für die Entwicklung ihres eigenen Bewusstseins nutzen, desto wacher und bewusster ist die Gesellschaft. Als Freud, der Unterbewusstseins-Avatar, seine unermüdliche und faszinierende Arbeit aufnahm (möge man denken über ihn, was man will), muss sich das kollektive Bewusstsein der Menschheit schon derart verdunkelt haben, dass es auffiel, nämlich ihm, dass hier Hilfe vonnöten war. Noch ging er am Anfang selbst aus von dem Wunsch, es mögen eher „gesunde“ Systeme das Interesse an einer Selbst-Analyse kultivieren, bis der Zweifel bzw. die Erkenntnis kam, dass es davon recht wenige gibt. Und nun leben wir in unserer Gegenwart ja bereits in dem Paradox, dass es nicht nur genug Nahrung gibt, um alle Hungrigen zu ernähren, sondern auch genug frei verfügbares Wissensmaterial, um das, was man einst törichterweise „Erleuchtung“ nannte (meine Stimme ist hier kurz in die Zukunft gerutscht), in Wirklichkeit die durch tiefe Reflektion wiedergefundene Schlichtheit des Seins ist, bei der das Wort „normal“ vielleicht mal wieder eine Berechtigung hätte. Denn das, was durch mutiges und unermüdliches Eintauchen in fassungslose Abgründe und Schluchten des Verborgenen ans Tageslicht geborgen werden kann, kann man m.E. nicht mehr wirklich das „Natürliche“ nennen, wo mir hier aus den inneren Archiven der Satz von Nietzsche zufliegt, dass die Natur überwunden werden muss. Denn abgesehen von allem Schönen, was sie als Urgrund und Bühne unseres Seins bedeutet, so hat sie doch die Tendenz zu wuchern und alles zuzulassen, was herauswill aus ihr, und jeder Gärtner kennt diese Probleme. Ich selbst beobachte die anarchischen Aspekte meines Wesens mit ziemlich großzügigem Blick, aber ich kann mich auf mein ordnendes und reflektierendes System inzwischen ganz gut verlassen. Wieso in aller Welt sollte der Mensch nicht frei sein können und wollen und dürfen, jede/r in ihrem/seinem Maß. Auch in meditativen Wissenswelten spricht man oft von tiefer Verzweiflung und Schmerz als einem Auslöser von eigenem Denken.  Ich selbst empfinde als außerordentliches Glück, mit und durch alles Ackern hindurch, als Frau (na ja, nicht ohne), in dieser Zeit in einem Garten zu landen und Muße und Zeit zu haben, mein Leben nach Herzenslust zu gestalten und zu reflektieren, wobei „Reflektion“ ohne ein Gegenüber (und ohne liebevollen Blick) nicht wirklich gelingt.

Bild: es sind Picassos Augen, die aus der Eule schauen.


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