aus/durchhalten

Es gibt vieles, was sich dem Fremden in einer anderen Kultur erst nach Jahren erschließt. Da man diese Gelegenheit meist nur einmal im Leben hat, wird man sich dadurch einerseits der zutiefst liegenden Gleichheit des menschlichen Wesens bewusst, und andrerseits werden auch die enormen Unterschiede klarer. Es gibt einen Wesenszug im Hindu, der mich immer wieder verblüfft/verstört/verärgert/beeindruckt/ und ratlos gemacht hat, und das ist die Fähigkeit,  wirklich (mir) Unvorstellbares schlicht und einfach zu ertragen. Es mag an dem für einen Hindu unanfechtbaren Glauben liegen, ja, an der Gewissheit, die in seinem Blut verankert ist, dass die Seele immer wiederkehrt, bis sie eines schönen Tages im Strom der Ewigkeiten und Zeitalter „jivan mukti“, also Befreiung vom Leben, erlangen wird. Aber wer will schon vom Leben befreit werden, von seiner angeblichen Mühsal? Vielleicht Mühsal, ja, aber den Planeten verlassen, während die Vögel weiterzwitschern und die Sonne scheint? „Jalte hai – jalte hai “ ist ein Lieblingsaus-und eindruck der Inder: „Geht doch! Hält man halt aus!“ Da das Bewusstsein des Individuums (bis vor kurzem und immer noch vorherrschend) nicht geschult wird, aktiv in das Geschehen eingreifen zu können, wird einfach alles gelassen. Selbst die Klügsten unter ihnen meinen, man müsste sich halt anpassen an das Geschehen und die Verhältnisse, mögen sie auch noch so untragbar erscheinen. Da liegt der Wurm, aber der wirkliche Wurm ist, dass ich gar nicht sicher bin, ob es überhaupt ein Wurm ist. Was, wenn es die nackte Wahrheit ist? Ich gebe mal ein Beispiel: die 4 Servants von Om Prakash, einem rechtschaffenen, älteren Brahmanen, bringen täglich in sein Haus bzw. seine Familie ihre Smartphones mit und lassn stundenlang ihre Techno-und Filmschnulzensongs ablaufen, und wenn sie grad nichts zu tun haben, kopieren sie tanzend die Smartphonevideos. Er kann die Musik nicht leiden, sagt aber nichts. Wir müssen es ertragen, sagt er zu mir. Müssen wir? Aber ist meine westliche Einstellung nicht auch illusionär, dass man durch Eingreifen wirklich etwas verändern kann? Ich habe keine Wahl und muss mich für beides entscheiden, obwohl ich oft genug passen muss. Suresh zB, der seit vielen Jahren Junkie ist und seine vormals geachtete Familie ständig um nicht geringe Summen beklaut aus der Geschäftskasse, und alle auf niedrigstem Level beleidigt und beschimpft….alle finden es unerträglich, aber (da man m.E. nicht rechtzeitig gehandelt hat), taucht keine Lösung auf. Seine Mutter steckt ihm das Geld für das Heroin zu, auch um ihn eine Weile loszuwerden, aber alle schleppen sich durch das Untragbare. Das macht sie auch stark und zäh, zehrt aber, finde ich, viel zu sehr an den Energien. Zumindest was unser eigenes Umfeld angeht, sind wir doch nicht hilflos. Aber um Verantwortung dafür zu übernehmen, muss man konfliktfähig sein. Das kann man vom Inder nicht sagen. „Mere baat sono“ – „hör mir zu“, hauptsächlich von Männern gewünscht, da von Frauen ja eher Zuhören und sittsames Schweigen erwartet wird, aber keine Fähigkeit, eine Auseinandersetzung miteinander durchzutragen, die zweifelsohne zu mehr Klarheit und Differenzierung führt. Bei einem Skandal wird wie überall innen gequasselt und draußen geschwiegen. Man schaut, wie die Sache läuft. Bald kommt eh die nächste Nummer, dann löst sich alles von selbst. Tut es das? Es kommt eigentlich immer wieder auf dasselbe hinaus: wir können uns nur selbst verändern, weil da auch die größte Freiheit liegt: eigene Schulung, eigenes Maß- Wenn ich mich kenne, kenne ich auch mein eigenes Maß. Es ist tatsächlich nur, wie es ist. Und wie mein Geist es sieht, ist auch nur Teil des Spiels. Dahinter blinkt gelassen ein unermessliches Feld, erschreckend in seiner reichhaltigen Leere. Ist das nun das Grundgefühl des Hindus, das ihn einerseits an sein flüchtiges Karma fesselt (geht schon!), und andrerseits sein Geist ihm sagt: du bist immer da. Nichts geht verloren. Für solche Seinszustände, wenn sie nicht nur aus Gedanken oder Ideen, Vorstellungen oder Grübeleien bestehen sollen, muss man sich entweder geeignet machen oder dafür geeignet sein. Am besten beides.


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