neti neti

Gestern hatte ich ein langes Gespräch mit Reena, mit der mich seit vielen Jahren eine Freundschaft verbindet. Wir sind am selben Tag geboren und haben zahllose gemeinsame Teestunden hinter uns, noch in Zeiten, bevor das Fernsehen nach Indien kam und die bis dato üblichen Zusammensitzkreise auflöste, um alle in eine einzige Richtung stieren zu lassen. Am Anfang dieses kulturellen Wandels war ich oft verblüfft zu sehen, dass die Programme nicht nur in schwarz/weiß liefen, sondern es konnten auch Beiträge aus Japan sein, die kein Mensch verstand und trotzdem alle gebannt hinschauten. In der Zwischenzeit hat sich vieles getan. Kinder schauen zusammen Filme auf Smartphones, und an den Wänden einfacher Restaurants hängen Flatscreens, auf deren Bildflächen sich gewalttätige Dramen abspielen, die ich lange mit Indien nicht verbinden konnte oder wollte. Aber verstanden habe ich schon, dass Menschen die Last ihrer eigenen Dramen gerne an andere delegieren, eben an Schauspieler, die gelernt haben, sie auszudrücken. Reena  und ich haben gemeinsame Freunde an Covid verloren und zum ersten Mal darüber gesprochen. Über die Frau und die beiden Kinder von Ram Rattan, der vor Kurzem im Krankenhaus gestorben ist, kurz danach sein Bruder. Sie nun allein mit den Kindern auf einem riesigen Tempelgelände, um das die beiden Brüder sich gekümmert haben und sie keine Ahnung hat, wie das geht. Ram Rattans Großvater war der Erfinder von 90 neuen Yogastellungen, die man alle auf Bildern im Tempel betrachten konnte, in dem es auch oft schöne Musik zu hören gab, live natürlich, und noch ohne Lautsprecher. Automatisch rutscht man wegen der vielseitigen Erfahrungen in einen orientalischen Erzählmodus, denn wenn man es erzählt, kann man es selbst kaum glauben, was da so alles war im Dschungel des Unfassbaren. Reenas Mann ist Alkoholiker und ja, trinkt immer noch, man muss akzeptieren, meint sie, nirgendwo ist Vollendung, zumindest nicht, was die nüchterne Bilanz des Alltags betrifft, was ja allerortens zutrifft. Aber im geistigen Feld haben sie (wer auch immer sie waren) wirklich nichts ausgelassen. Das Netz war zwischen verlockendem Nichts und praller Ekstase so dicht gedacht, dass niemand entkommen konnte. Selbst Engländer und Muslime beugten sich dem verschlingenden Angebot des großen Einfach des Daseins, präzise konstruiert für die, die Familie wollten, und die, die den anderen Weg wählten. Nicht einfach frei, nein, sondern es musste ein Weg sein, der Weg an sich, auf dem man sich auf viele kunstvolle Weise dem nähert, was am schwersten zu erfassen ist, nämlich das eigene Wesen in seiner letzten, unkörperlichen Konsequenz. Und diese umwerfende Frage über den einen Gott, welchen auch immer aus dem Ozean der Möglichkeiten, und ob er es wohl weiß, eben alles, oder auch nicht. Neti neti, eine meditative Analyse also über die Natur des Absoluten. Schon wird mir warm ums Herz, denn das Heimweh bahnt sich den Weg zu mir. Wieder ein Jahr, in dem ich, selbst wenn ich wollte, kein Visa bekommen kann dorthin, wo das alles war. „Das ist doch alles noch da“, sagt Reena, „komm auf jeden Fall, wir sind alle noch dieselben.“ Aber es stimmt ja nicht, wir sind auch ohne Pandemie nicht mehr dieselben, aber die Pandemie hat zweifellos ihre Finger im Spiel. Ein Abschied dauert oft länger, als man denkt. Und vielleicht hat er kein Ende, sondern wird zu einem Bilderbuch, in dem wir in gemütlichen Hütten oder weißen Marmorpalästen immer noch weiterhin Chai trinken und erzählen, wie es einmal war, und dass es, wenn es nicht gestorben ist, heute noch lebt.

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