All-täglich

Wer wird schon gerne aus seinem oder ihrem Alltag hinaus befördert in den Ausnahmezustand? Der kann schnell kommen. Schon mit schlechter Laune, deren Urgrund man noch nicht ergrübelt hat, hat der Alltag weniger Leuchtkraft. Und wo soll er die überhaupt hernehmen, hängt doch seine Erscheinungsform ganz eng zusammen mit unseren Befindlichkeiten. Ein sehr dunkler Ausnahmezustand ist die Katastrophe, wozu R.D. Laing einmal meinte, dass wir gerade dann einander in die Augen schauen. Über die derzeitige Maskierung hinweg muss man gestehen, dass es gar nicht so einfach ist, andere Maskierte über Augenkontakt wahrzunehmen, nur manchmal wirkt der wahrgenommene Gruß etwas intensiver. Die Maskierung betrifft ja zum Glück nicht das Zuhause, denn da geht es um andere Sachen. Natürlich flutscht oder fließt es besser, wenn die eingespielten Rituale, mit denen günstigerweise alle Beteiligten einigermaßen d’accord sind, sich so mühelos wie möglich abspielen können. Der Alltag, ja, was ist das überhaupt. Gerade war er noch da, jetzt kann man ihn schon das Labyrinth oder das Chaos oder die Katstrophe nennen. In vielen Häusern wird jemand krank oder liegt im Sterben, andere liegen immer noch im Winter von Moria auf den Scherben ihrer Hoffnungen. Auch das ist Alltag, man kann ihm ja gar nicht entkommen. Immer ist Alltag. Und in den Krisen werden fast wie nebenher Zugehörigkeiten ganz wesentlich, zum Beispiel da, wo ich mit Hilfe rechnen kann, wenn ich sie brauche. Alle Tage davor führten da hin, dass es ohne jede Frage möglich ist, dass man sich neu orientiert, auch wenn es die eigenen Rituale verschiebt oder gar stört. Gerade das Ausscheren aus den Gewohnheiten kann viel zur eigenen Reife beitragen. In Indien war ich mal längere Zeit sehr meditativ unterwegs, was die Einheimischen erfreute. Da fand ich auf der Straße ein zugedecktes, schmutziges Tuch, unter dem es zu atmen schien. Ich hielt es für ein Tier, aber es war ein vor Kurzem geborener Mensch, der sehr winzig und sehr alt aussah. Niemand reklamierte es, so hatte ich auf einmal ein kleines Mädchen bei mir im stillen Kämmerlein, und wir verbrachten sehr schöne Monate miteinander, bis alles Weitere geklärt war. So kam es zu einer wunderbaren Beziehung, die jedes Jahr in Indien eins meiner Highlights war und ist. In der Zwischenzeit ist sie verheiratet und wir reden wegen Corona vor allem über WhatsApp. Gegen die Gesellschaft musste ich meine Entscheidung regelrecht verteidigen, so, als hätte ich mein Lebensziel aufs Spiel gesetzt. Dabei war ich vor allem dankbar, etwas zurückgeben zu können (in Bezug zu eigenen, dunklen Schicksalsadern). Auch hat man meistens wenig Zeit, inmitten einer Neu-Orientierung über den Sinn nachzusinnen. Es genügt durchaus, dass man bereit ist,  für die jeweilige Situation die bestmögliche Handhabung zu finden. Einmal, während eines Besuches bei meiner Mutter, wollte ich mir im Fernsehen einige Interviews mit Überlebenden aus Auschwitz anschauen. Am meisten berührte mich, wie zutiefst menschlich sie wirkten, wie menschenfreundlich. Wahrscheinlich ist es so, dass, wenn man das klirrende Eis der Entmenschlichung erfahren hat, einem jedes warme Lächeln vorkommt wie ein Sonnenstrahl, was es ja auch ist. Aber dass es überhaupt möglich wurde, das weist weit über das Menschenmögliche hinaus. Oder es weist gerade hier auf das Menschenmögliche hin.

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