Gangart

Selbst nach jahrelanger Übung, mich in d e n zwei Kulturkreisen zu bewegen, die mir am vertrautesten geworden sind, kann ich nicht wirklich von einer Gewöhnung im Umgang damit sprechen. Es sieht zwar oft ähnlich aus und vieles ist auf beiden Seiten leicht wiedererkennbar, aber die eigene Notwendigkeit, sich auf die jeweiligen Situationen, Sprachen, Handbewegungen, Einstellungen, Gedanken und das Außenleben immer aufs Neue einzustellen bringt Zustände hervor, mit denen man umgehen muss. Haben Veränderungen in mir selbst stattgefunden durch jeweilige, tiefe Berührungen, kann ich, auf die andere Seite reisend, nicht erwarten, dass ich sie auf diesselbe Art und Weise wahrnehme wie gerade noch. Sie müssen erst durch das Raster der anderen Kultur geschleust bzw. gelebt und auf diese Weise noch einmal neu erlebt werden, bis sie als Spuren im Selbst wahrgenommen werden können. Wenn ich mich in Indien z.B. immer auf die eine oder andere Weise mit dem Kosmos der Götter und Gottheiten auseinandersetzen muss, da es kaum jemanden unter den Einheimischen gibt, die sich auch nur annähernd in persönlichen Reflektionen damit beschäftigen, aber einen felsenfesten Glauben daran haben, so bieten diese Einstellungen im Westen keinerlei Relevanz, obwohl man von PhilosophInnen, PoetInnen, PriesterInnen, KünstlerInnen u.s.w. überall dasselbe an geistiger Anstrengung und Wachheit erwartet, die man, wenn man nach ihr sucht, in der Menschheitsgeschichte allerorts finden kann. So wandeln sich vor allem die äußeren Formen und Umstände, und wenn man sich einen Weg bahnen kann durch den Wirrwarr und Wahnsinn der dominierenden Geistergeschichten, erkennt man tatsächlich ein Öllämpchen am Ende des Tunnels. Es ist einfacher, sich auf die Qualität eines Smartphones zu einigen, auch wenn der Eine in Sibirien postet und der Andere in Sizilien, aber eine gemeinsame Botschaft der Kernsätze von religiösen Überzeugungen zu finden ist vielleicht einerseits gar nicht so wichtig, wenn die Unterschiede geachtet werden, und andrerseits kann es spannend sein (zum Beispiel), zwischen dem Verbot des christlichen Gottes im Paradies, vom Apfel der Erkenntnis zu essen, gefolgt von einem Rausschmiss aus dem Garten nach Missachtung des Gebots, und dem Wunsch des indischen Schöpfergottes, als einziger Erzeuger und Bestimmer des Ganzen gesehen zu werden, wobei es im indischen Olymp auf andere Weise wild zugeht, und auch d a Widersacher unterwegs sind, die den schwer verständlichen Stories den Pfeffer geben. Dort klage ich öfters auch mal über den ohrenbetäubenden Lärm, der das indische Leben umgibt, hier, ebenfalls außerhalb der Städte wohnend, macht mir die tiefe, wunderbare Stille auch klar, wie intensiv Menschen im Westen mit der persönlichen Gestaltung ihres Alltgas beschäftigt sind. In Indien läuft das Meiste noch traditionellen Bahnen entlang, wenn auch nur als leere Hülse, die Vertrautheit vorgaukelt. Im Westen herrscht eine Idee von Freiheit vor, die selten zur Umsetztung von persönlichen Wünschen führt. Das Angebot ist immens, die neuen Anforderungen folgen dicht auf dicht. In beiden Kulturen suche ich intuitiv nach Räumen, in denen mein Selbstsein stattfinden kann, ohne die Anderen zu stören oder von ihnen gestört zu werden. Schließlich treffen wir in jedem Menschen, dem wir direkt begegnen, auf eine eigene Kultur, mit deren Ausdruck wir umgehen müssen. Freiheit ist mühsam, will sie ein Tanz werden mit den Mitteln des Vorhandenen. Mit nur mir selbst zur Verfügung stehend betrete ich immer wieder aufs Neue das Feld der Handlung, oder lasse mich auch zuweilen ein auf das Nicht-immer-Handelnde, weil ich Zustrom spüre aus dem Grundton meines inneren Orchesters. Nein, die Unterschiede sind nicht so groß. Doch kann ich das erst sehen, wenn ich mich ernsthaft den Unterscheidungen gewidmet habe. Es wird dann auch klar, dass das Einfache ein Weg ist, auf dem der Pfad für die Füße immer schmaler wird, dem Auge aber  gerade durch diese konzentrierte Gangart eine Weite und Tiefe gewährleistet wird, die jede Ablenkung grundsätzlich widerlegt.

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