die Ayesha

Heute früh um 5 Uhr deutsche Uhrzeit habe ich in Indien, wo es dann 9 Uhr 30 war, bei der jungen Frau in Jodhpur angerufen, die heute ihren achtundzwanzigsten Geburtstag feiert und die ich gerne bei Gelegenheit „meine Tochter“ nenne. Vor 28 Jahren also war das, als mein Fuß auf einer staubigen Straße gegen ein weiß/graues  Bündel stieß und eine kleine Bewegung unter dem Tuch sah. Ich hielt es in erster Wahrnehmung für ein verendendes Tier, aber dann, als ich nachschaute, war es ein winziges Kind. Ich stelle fest, dass es kaum möglich ist, sich wirklich zu erinnern. Wir erinnern uns an Geschichten, eigene Konstrukte, persönliche Belichtungen. Aber trotzdem ist sichtbar und spürbar, wenn etwas gelingt: die Verbindung der Menschen untereinander, die wunderbare Mühe, um ein Herz zu ringen, und dann auch kein Ringen mehr. Selbstbestimmte und befreiende Handlungen, Pausen, Erholungen, Lehrgänge. Die junge Frau, das Geburtstagskind, ist dann kurz nach ihrer Geburt 6 Monate lang bei mir aufgewachsen. An dieser Stelle danke ich gerne den Forschungen der Bindungsanalytiker:innen, die dem Erleben dieser Kleinstkinder neues Interesse widmen, also: was erfahren die eigentlich im Mutterleib und dann draußen. Meine Mutter dachte auch noch, die, also wir Kinder, kriegen nichts mit. Ich habe das Kind dann „die Ayesha“ genannt, das war den Adoptiveltern etwas zu muslimisch, seitdem heißt sie Asha, das bedeutet Hoffnung. Die ersten sechs Monate also zusammen, sie und ich. Ich keine Ahnung von Wesen dieses Alters, aber das war dann eine wirklich schöne Überraschung, weil doch alles sehr gut ging. Es kann sie immer noch in der Tiefe schmerzen, dass sie nicht weiß, warum ihre Mutter sie derart abgelagert hat, aber wir haben zusammen eine Geschichte konstruiert, die dem wahren Vorgang entsprechen könnte. Nun ist sie verheiratet mit einem sympatisch wirkenden Mann, arbeitet als Lehrerin und ist very busy und anscheinend sehr zufrieden im Haushalt ihrer Schwiegereltern. „Machen Sie sich keine Sorgen um sie“, sagte der Hindupriester, den ich damals konsultiert hatte, „sie kommt, wo auch immer sie landet, bestens durch. Sie hat attraction power.“

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