Mauerfall

Der Nachbar fragte an, ob er den Rasen mähen könne, am Samstag. Wahrscheinlich wusste er bereits, dass es ein Feiertag werden wird, sowas vergisst man ja leicht, obwohl man es ahnen könnte, denn es ist ja schon Oktober, der dritte Oktober. Der Begriff  ‚Einheit‘ bewegt sich nicht so leichtfüßig im öffentlichen Raum, und man weiß ja nicht, ob er, der Begriff, in den Familien gern gesehener Gast ist. Kein mickriger Anspruch, die Einheit, und wohl verdient, wenn sie durch so tiefes Entgegenstreben geboren wurde, aus so einem dunkel empfundenen Anrecht auf das Leben selbst, als sich selbst also, unterwegs mit dem eigenen Leben zu sein, wer möchte das nicht, denkt man so vor sich hin. Ein paar Tage nach dem Mauerfall war ich auch dort mit einem Freund, der Berliner ist. Ich mochte es immer, dass ich Berlinerin bin, jeder weiß doch, dat wir wat Besonderes sind. Kein gebildeter Inder, der nicht glücklich wäre, in Berlin zu landen. Überhaupt wäre gern jede/r mal zumindest in Berlin gewesen, und wer partout nicht kommt, wen kümmert’s. Damals, als ich in Berlin aufgewachsen bin, gab es noch den Paragraphen 175, Homosexualität war strafbar, und vor allem  viele Männer verließen ihre Alibi-Beziehungen, um in extra dafür eingerichteten Bars ihre Geliebten zu treffen. Ich lebte in einem Haus direkt an der Mauer, beziehungsweise war es da ein hoher Zonen-Zaun, und dahinter ein Wachturm, von dem aus man manchmal die Beatles singen hörte, vermutlich aus den Transistorradios junger Scharfschützen. Immer wieder gab es Geschichten von Mauerüberquerern und toten Körpern von Menschen, deren Abenteuer zu Ende war. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, was hinter dieser Mauer ablief, wer konnte es schon. Einerseits liefen noch die Mörder herum, andrerseit wehte ein Wind, der wollte weiter gehen. Genau wie bei den Fridays for Future VerfechterInnen wollten wir, oder muss ich jetzt ich sagen, wollte hinaus oder hinein in mein eigenes Leben. Erst viel später spürte ich auch in mir das Raunen des kollektiven Unbewussten, und die eigenen Fragen wurden laut nach dem ‚Was ist da geschehen‘. Später traf ich mit Mitgliedern des Living Theater mit Helene Weigel zusammen. Soweit ich mich erinnere, ging es um die Rechte auf die deutsche Übersetzung von ‚Antigone‘, bevor die Proben zu diesem Stück begannen.  Balladen von Brecht und seine Lieder flossen durch mein Blut. Dann war ich weg. Ex oriente lux. Ich begann, mich in einem anderen Osten zu bewegen, einer Welt ohne Schusslöcher und zu vielen frischen Wunden, vielleicht wirkte es heilend, obwohl das gar nicht mein Anliegen war. Als wir nach der Maueröffnung gemeinsam die geöffnete Straße entlanggingen, wurde innen etwas ganz stumm. Es war, als wäre der Krieg grad zu Ende gegangen und Waffenruhe sei endlich eingekehrt, Dieser Osten und dieser Westen, das wissen wir ja jetzt, wie sehr die Menschen nicht in derselben Welt lebten. Bei manchen, die ich aus Ostdeutschland getroffen habe, konnte ich eine tiefe Art von Menschlichkeit spüren, gepaart mit einem Misstrauen gegen ‚offenes‘ Sprechen, so als wären die Fühler immer auf der Suche nach den Gefahren der Gehirnwäsche, was verständlich ist, aber nicht immer zu angenehmen Begegnungen führt. Man geht ja gemeinsam durch etwas, was noch keiner vorgelebt hat. Immerhin ist eine Mauer gefallen und hat unendlich viel ermöglicht, was vorher nicht möglich war. Entsetzen und Freude konnten sich vertiefen und können das weiterhin tun. Wenn man sie zulässt.

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