fehlen

So, wie das Virus unter den Viren zu einer derart weltbewegenden Bedeutsamkeit kommen konnte, an der sich die Geister wetzen konnten und können, ohne jemals zu einer zufriedenstellenden Antwort zu kommen, da es sie möglicherweise gar nicht gibt, so gibt es Menschen, deren Tod das Zünglein an einer Waage wird, das eigene Worte findet für den Ausbruch der Krankheit. Aber vor allem ist es ein bestimmter Moment, wo die lange verdrängte Krankheit nach einem Heilweg sucht, nachdem die notwendige Aufmerksamkeit auf das Krankenbild gefallen ist und eine vorläufige Diagnose möglich macht. Überhaupt taucht an einem bestimmten Punkt des kollektiven Erlebens die Frage auf, wie krank eine Gesellschaft denn bereits ist im Moment eines gesellschaftlichen (relativen) Erwachens, und wann es an der Zeit ist, unzumutbare Verbrechen mehr in den Blick, und das heißt jedermanns Blick, zu nehmen. Denn ja, es gab schon immer Proteste und Demonstrationen, aber zuweilen scheinen tatsächlich neue (vor allem junge und frische) Kräfte das sogenannte Normale und Akzeptierte zu durchdringen. Und nun können wir inmitten einer Pandemie auf einmal auch kluge und nicht nur wissensvolle Reden hören, sondern berührende Worte, die dem Unsagbaren entsprechen. Denn es weiß niemand, wie viele Menschen in aller Herren Länder in irgendwelchen dunklen Ecken wegen ihrer Hautfarbe gedemütigt und getötet wurden, und irgendwann reicht’s einfach, wie auch immer dieses Reichen zustande kommt. Und in der typischen Ambivalenz des menschlichen Umgangs mit den hervorgebrachten Dingen dieser Welt sehen wir auf der einen Seite, wie hilfreich die digitale Entwicklung sein kann, indem sie den Mörder im Bild unwiderruflich festhält, und andrerseits baut ein Technik-Experte mit (vermuteter Unterstützung) seiner Mutter in einer Gartenlaube ein (weiteres) superverschlüsseltes Netz für Kindesmissbrauch auf, und man fragt sich wieder mal, wie kann das sein, dass keine/r undsoweiter, und man selbst es auch nicht rechtzeitig bemerkt  oder gewusst hat, dass der Ehemann der Freundin öfters mal nackt auf den Kindern herumlag, bis sie nicht mehr nach Hause wollten. Das war in Indien, wo man auch nicht wusste,  wie lange das eigentlich alles schon aus dem Ruder läuft, weil vor allem innerhalb der Familien jeder Mann weiß, dass hier niemand wegrennen oder überhaupt darüber sprechen kann. Es gibt, wenn man nicht darüber sprechen kann, ja auch keine Worte dafür. Wie soll man eine Tat, bei der ein Mann ein einjähriges Kind schwer sexuell missbraucht, jemals verstehen. Die Kindesmisshandlung, so höre ich heute in den drei Minuten Nachrichten, die ich morgens noch als die tägliche Nachrichtendosis höre, ist in der Corona-Zeit um 30% angestiegen. Da gibt es nicht so viele Gefühle, zu denen man Zuflucht nehmen kann. Es gibt das Schicksalspaket, das auch für jedes Kind allein durch die Lebensart der Eltern schon genügend geschnürt ist, aber das ist etwas völlig anderes als vernichtet zu werden durch enthemmte Triebtäter oder wie auch immer man sie nennen könnte, wollte man überhaupt Worte für sie finden. Ich denke dann zum Beispiel: warum schwimmt da im Rot ein Kind herum in meiner Pinselei. Und ein entsetztes Auge schaut in die andere Richtung. Und zwischen ihnen fehlt die liebevolle Bindung, ohne die jedes Verbrechen potentiellen Zugang hat zur zerbrechlichen und zarten Art der Wesen.

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