Oh weh

Oh weh o jeh oh jemineh, da geht er dahin, es mehren sich die Zeichen der Einschränkungen, der Sommer, der vielgelobte und gepriesene, schleicht sich auf Ledersandalen davon, noch ohne Strümpfe, ein paar Tage, dann fallen noch mehr Blätter. Stimmt ja, es war Dürre und ist noch immer Dürre, die Bauern bitten um Unterstützung, die Regierung bittet um Nachdenken, was das Bebauen betrifft. Man erinnert sich und wird erinnert an das Umstellen: der Klimawandel, die Sommerzeituhr. Das Volk darf sich melden und mitreden, wir sind eine Demokratie. Selbst der Stau kann einem, wenn man mit ihm umgehen lernt, als in die Ferien fahrender  Mensch etwas schenken, erzählte neulich irgendwo jemand: da ist man auf einmal z.B. mit der Familie im Auto, also auf engem Raum allein, und kriegt mal mit, wie sie sind, wenn sie nicht irgendwo herumrennen und ihrem Zeug hinterher hetzen. Zwar alle noch bewaffnet mit Maschinen, aber auch games und chats dauern nicht ewig.  Oder zuhause bleiben und nie Ferien machen, was man auch die ferienlose Freizeit des schöpferischen Prozesses nennen kann. Wenn die Sonne längere Zeit scheint, hat man viel mit ihr zu tun. Man will sich in ihr aufhalten, die Wärme genießen, das Außen. Das ganze Außen wird prächtig, man kommt mit der Wahrnehmung der pompösen Farbausbrüche kaum hinterher, versäumen will man auch nichts. Das trunken machende Grün, die Beeren, dann die Äpfel. Man möchte sich gerne fernhalten von der Politik, aber es geht nicht. Die Menschheit wartet auf Antworten auf die brennenden Fragen. Auf ein früher undenkbares Maß energetisch zusammengerückt, erkennen wir immer schneller die Fragen, die von weit her zu kommen scheinen, so als hörte man sie zum ersten Mal, nur um dann zu sehen, dass sie immer schon da waren, nur jetzt so dringlich, sodass man sich an die uralten oder neuzeitlichen Thinktanks wenden muss, wenn man keine eigene Quelle im Haus hat. Ist es menschlich, „die Afrikaner“ in ihr eigenes Land zurück zu schicken, und sich dort um ihr Land und die herrschenden Verhältnisse zu kümmern, oder geht es darum, menschlich zu handeln, um die  ziemlich Gepeinigten zumindest erst einmal ankommen zu lassen, bevor die neuen Enttäuschungen einsetzen. Als Menschheit sind wir ein Strom, aber unsere Schicksale sind einzeln. Wer wo herkommt und wo hingeht, und wo zum Bleiben kommt, und wo nicht bleiben kann, und wo und wer weiter oder woanders hin möchte, und wer  das will und  es auch kann, und wer Bleibe verhindern und wer sie geben kann. Das hängt von so vielen Dingen ab. Und wer weiß, wo diese vielen Gottheiten sich herumtreiben, zu denen auf vielen Sprachen gebetet wird auf den Fluchtwegen, denn wenn du, oh Herr (meistens ist es ein Herr) nicht helfen kannst, wer dann! Manchmal sieht man auch Berge, die versetzt werden, jeder hat eine andere Methode und schwört auf einen anderen Weg.  Und doch hat das Menschliche eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit sich selbst. Als wären die Maskeraden nur Beiwerk, und es ginge letztendlich immer um dasselbe. Dass man am Ende des Weges jemanden entdecken kann, der einem so ähnelt, dass man voller Freude ist, sich getroffen zu haben, obwohl man gar nicht wusste, wie es geht. Aber zurück zum Sommer. Gerade blättere ich in Gottfried Benns Gedichten herum und musste erkennen, dass ich eine seiner Zeilen jahrelang missverstanden habe. Ich dachte immer, dass er sagt, es wäre das Schlimmste für ihn, im Sommer zu sterben, wenn alles hell ist, und die Erde für Spaten leicht. Aber nein, er sagt, dass am schlimmsten ist, nicht im Sommer zu sterben, wenn alles hell ist, und die Erde für Spaten leicht. Jede/n beschäftigt so viel.

 

(Gottfried Benn: „Was schlimm ist“)


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