Anstoß

Eigentlich dachte ich wir bekommen schon heute einen neuen Kanzler, und als wer reihe ich mich da in ein Wir ein. Es ist jedenfalls klüger, nicht als Nikolauskanzler in die Geschichte einzugehen, und man muss es Satire Deluxe ja nicht zu leicht machen. Deswegen werde ich nicht unbedingt auf Mittwoch warten, oder das Warten überhaupt lassen, und dann könnte man gleichzeitig die Erwartungshaltungen lockern, bis ein gewisser Freiraum entsteht, in dem das, was tatsächlich geschieht, Platz hat. Natürlich fragt man sich zuweilen, warum so ein Terz gemacht wird um die drei simplen Wörtchen „be here now“, sei also jetzt da, anwesend und bewusst, wenn es so einfach und selbstverständlich wäre, wie es sich sagen lässt. Oft genug ist, meist von DenkerInnen, auf die Traumqualität des Lebens hingewiesen worden, so als bräuchte das tägliche Herumgehen im Dasein noch einmal einen Anstoß des Erwachens, der gewährleisten würde, dass man die Geschehnisse noch einmal deutlicher und präziser wahrnimmt. Also nicht nur die eigene Befindlichkeit einschätzen lernt, sondern auch darüber hinaus noch Raum lassen kann für die äußeren Bedingungen. Viele Erinnerungen kamen mir oft wie ein Traum vor, wobei andere Erfahrungen, die in einer bestimmten Aufmerksamkeit und Wachheit erlebt wurden, gar nicht mehr als Erinnerungen auftauchen, denn sie sind Teil geworden des lebendigen, bewussten Seins, bei dem man anwesend war mit Körper und Geist und sich dadurch in einer lebendigen Stimmigkeit befand und weiterhin befindet. Gestern meinte jemand im Kontext eines neuen Filmes über das Dritte Reich, dass wir noch keineswegs abgeschlossen hätten mit dieser unseligen Geschichte, da wir vieles darüber noch gar nicht wissen: zum Beispiel warum so viele Menschen diesem grauenhaften Geschehen zustimmen und zuspielen konnten. Auf jeden Fall weiß ich es noch nicht, und vielleicht weiß es niemand so ganz genau und es gehört zu den dunklen, unheimlichen Vorgängen in dieser Welt, über die viel nachgegrübelt wurde und wird, aber die nicht wirklich verstanden werden können. Zumindest nicht, ohne sich mit tiefem Interesse und großer Intensität um die Wurzeln des Menschseins herum zu bewegen, mal von hier aus gesehen, mal von dort aus für möglich gehalten, immer ohne letzten geistigen Sicherheitsgurt. Denn man hütet sich doch davor zu behaupten, dass der Mensch nun mal so sei, bevor man auf die brenzlige Frage stößt, wie er denn nun sei. Und schon erhebt sich der unsterbliche Satz aus der Urgrube delphischen Denkens und beansprucht einen aufs Äußerste. Denn man denkt doch gerne, dass ein Mensch, der sich selbst erkennt, nicht mehr brauchbar ist für eine derart entgleiste Idee wie der Mord an 6 Millionen jüdischen Menschen. Und man konnte ja später, vor allem als Kinder, die das überlebt hatten, vielfach ohne Elternteile, man konnte zuschauen in dem vorhandenen historischen Material, dass die meisten Täter keineswegs einsichtig waren, ein passendes und wirksames Wort: einsichtig. Sie waren nicht einsichtig, weil sie gar nicht zulassen konnten, was sie da taten. Das geht uns ja auch oft so in viel kleinerem Maß, dass es uns schwerfällt, zuzulassen, was wir verursachen, und das Ganze nimmt so eine Traumqualität an, weil wir davon ausgehen, dass wir das eben sind, aber was heißt das: können wir nicht anders oder könnten wir doch anders unter anderen Bedingungen, die wir selbst gestaltet haben, und die uns zwar weder eine Sicherheit geben noch eine Garantie, aber dafür eine Nähe zu unserem inneren Empfinden, und einen Hinweis in die Richtung, für die wir uns entschieden haben. Montag, sechster Dezember, mitteleuropäische Zeit.

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