Augenweide

 

Es war am frühen Morgen, dass sie durch den Garten kamen, und es ist mir eine Freude, den Anblick teilen zu können, ist doch ein Strang der Sehnsucht in uns ausgerichtet auf „das Schöne“ (und auch das Gute?), von dem Gottfried Benn meinte, er wüsste nicht, woher es komme, und wir wissen es auch nicht. Oder wissen wir’s doch, und es ist nur sehr schwierig, an es heranzukommen. Mit den Tieren ist das einfacher. Man sieht das, was wir als Unschuld erkennen möchten, ihnen an, deswegen schult auch die Liebe für das Tier ein Vermögen, mühelos die eigenen Vorbehalte zu sprengen. Man fasst dann (beispielsweise) als Vegetarierin Fleischklößchen an oder kauft eine neue Sommerzeckenzange, also erfährt sich in der Liebe als jemand, der überrascht worden ist von sehr viel Gutem, was dann die Lebenskanäle öffnen kann (aber nicht unbedingt automatisch) für eine Erweiterung, die man von sich selbst nicht kannte und nicht für möglich gehalten hätte. Durch das menschliche Bewusstsein erschwert sich das Erscheinen dieser Erfahrung, denn oft genug halten wir einander für befremdend oder gar gefährlich, oder potentiell gefährdend, und das hat ja auch seine Gründe. So scheint auch dieser Kampf niemals zu einem Ende zu kommen. Oder kann man, solange man sich die Beendung des Kampfes für alle ersehnt, sich selbst leicht übersehen? Oder kann sich im Raum der dunklen Spiegel die Frage stellen, ob man schon die persönliche innere Kampfzone verlassen hat, oder was für Geräte da noch herumliegen: die Schwerter, die Dolche, die Wortwaffen, die Gedankenschleudern. Es gibt auch schöne Worte, vor denen man sich fürchten lernt, weil so ziemlich alle Menschen ihren Inhalt beanspruchen und ein Recht auf die Umsetzung des Begriffes ins nackte Leben fordern. Dazu gehört auch das scheue Wort „Frieden“. (Oder Glück, oder Liebe). War es die ganzen Jahre friedlich, als es noch keinen Krieg in der Nähe gab, um uns an einige Kostbarkeiten des Daseins zu erinnern, die wir inzwischen für selbstverständlich erachten(?). Gestern meinte der Künstler Ai Wei Wei, der ungefragt auf meinem Algorithmenpfad erschien, unsere friedliche Phase, in der wir uns (verhältnismäßig) frei entwickeln konnten, sei nun vorbei, denn anstatt die Freiheit und den Frieden zu leben, verteidigen wir sie nun gegen ihre Angreifer. (Auch nix Neues). Da auch die Pandemie kein Ende gefunden hat, sinnt man morgens (und mittags und abends) so vor sich hin oder lotet die inneren Zustände aus, sortiert die Gedanken nach eigenen Ordnungen und schafft Weidenflächen für wache und müde Augen. Zuweilen kommt es mir vor, als hätte ich mir schon mit drei Jahren zugeflüstert „durchhalten ist alles“, und ich muss sagen, dass es sich bewährt hat. Was kaum zu ahnen war, zeigte sich als ein erstaunliches Abenteuer, bei dem einem einerseits wenig erspart bleibt an Überraschungen, aber gerade diese Überraschungen es ja sind, die das Durchhalten ermöglichen. Und wenn man zurückkehrt vom Holzholen, ist immer noch alles da. Noch da noch, noch da.

 

Video: H. Robert

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