Komma, aber…

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Jemand hat mir mal hier erklärt dass, wenn man eine schlechte Nachricht mitteilen muss, man zuerst mit etwas Positivem beginnen soll, und dann, nach dem unvermeidlichen Komma, mit dem anderen Bericht beginnen, immer mit ‚lekin‘, aber…das jeweils Andere ist eben auch noch da. So konnte ich gestern wieder einmal eine poetisch inspirierende Morgendrunde am See erleben, die angenehmen, liebevollen Begegnungen, bei denen oft Namen keinerlei Rolle spielen, man kennt sich einfach sehr lange und hat ähnliche Morgenzeiten. Als ich zurück war im Haus, brachte mir der Zeitungsmann, ein Sikh, zum ersten Mal wieder die ‚Times of India‘, denn ich hatte Ashok gebeten, ihn zu informieren, dass ich wieder da bin, obwohl ich ihn meistens irgendwann selber treffe. Da war sie also wieder, die Tageszeitung, die man zu lesen oder zu lassen lernen muss. Auf der ersten Seite links oben ein kleiner Absatz über eine Mutter, die hier, wahrscheinlich wegen dem Platzmangel, ‚Mom‘ genannt wird, die vorgestern ihre Tochter mit Benzin übergoss und anzündete, weil diese einen Mann aus einer niedrigeren Kaste heiraten wollte. Man fragt sich, wie niedrig was werden muss, um zu begreifen, wo niedrig angesiedelt ist. Dann kam auf der nächsten Seite ein etwas längerer Artikel über eine Stiefmutter, die, als der Vater bei der Arbeit war und die Tochter bei Nachbarn spielte, diesem Kind, als es zurückkam, den Mund zustopfte und ihre, wie sie es nennen, ‚private parts‘, also ihre Privatteile und ihre Beine verbrannte. Ein Sozialarbeiter, der davon hörte, meldete es der Polizei. Es war vor allem für mich so eine Dosis von etwas, das mich immer wieder erschüttert oder abgestoßen oder entsetzt hat. Es ist ja viel schlimmer als diese paar Artikel, wo mal jemand was gehört hat und genug Aufmerksamkeit bekam, reiner Zufall, schätze ich, Redaktionsauswahl. Nun will man sich das alles ja nicht vorstellen, und man muss es auch nicht. Oder doch manchmal, wenn man bedenkt, dass diese Kinder weiterleben. Da hat ihnen einmal in ihrer Kindheit jemand die private parts verbrannt, aber auch kein Jemand, sondern diesmal eine Frau, die zweite Frau ihres Vaters, nachdem ihre Mutter gestorben war. Man brachte sie nach der Tat zu ihrer Großmutter, und hätte der Sozialarbeiter nicht zufällig was davon erfahren, hätte nie ein Mensch gewusst, was mit der Frau los war, später. Oder hätten es alle ständig gewusst, weil, wer kann es vergessen. Die Tochter der anderen Frau war tot. Danach zündete sie sich selbst an, vermutlich, weil sie das Ausmaß der Tat erkannte, aber sie wurde gerettet und lebt nun weiter, erst im Krankenhaus, dann zuhause. Weil ihre Tochter einen Mann, den sie liebte, in ein paar Tagen heiraten wollte. Dem geht’s bestimmt auch nicht gut. Wenn eine Gesellschaft durch ihre Regulierungen und durch ihr fixiertes Gedankengut solche emotionellen Ausbrüche hervorbringt, dann…ja, was dann…dann bleiben wir vielleicht nur, oder bleibe gerade vielleicht nur ich auf meinem Stuhl sitzen und schaue hinein in das Unfassbare, so tief es möglich ist, und sehe die Grenzen der Tiefe. Meine Grenze. Mein Schiff, das dem verborgenen Eisberg ausweicht, auch vorbeilenkt an der Gespensterfregatte. Ich habe Vertrauen in meinen Kompass, und an Land achte ich auf meine Schritte und lebe so unblind wie möglich. Denn was hilft es, dass man sich gerne aufmachen würde und hingehen. Irgendwann blättert man weiter. Times of India.

Im kleinen Bild rechts oben stehen die Artikel.

 


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