Trostpflaster

 

Das Video kam aus Indien, und natürlich kann man den dunklen Humor darin nur verstehen, wenn man weiß, dass es in den Straßen von Delhi, auch den nächtlichen, noch nie so leer war. In diese unheimliche Stille hinein trabt ein Pferd vorbei mit einem geschmückten Bräutigam darauf, der ’normalerweise‘ umgeben wäre von hunderten von Angehörigen und Freunden, und man kann sich natürlich auch da fragen, warum etwas unbedingt sein muss in Zeiten, die dafür gar nicht günstig erscheinen. Es gab immer wieder mal einen bekannten Hindu (wie z.B. Vivekananda), der davor warnte, dem Panchang, einem Kalender, der jeden Tag die dafür günstigen und ungünstigen Daten und Taten vorschreibt,  derart ergeben zu folgen, da es einen geistigen Leerlauf erzeugt und auf jeden Fall nicht zur eigenen Beurteilung anregt. Aber noch habe ich in den vielen Jahren noch von keinem ernsthaften Beschluss wie dem Heiraten gehört, ohne dass der Panchang gewälzt worden wäre, und so reitet eines Tages der einsame Lockdownprinz ohne Gefolge durch die leergefegten Straßen, in denen die Hunde ungestört ihre Reviere vergrößern. Vermutlich ist es eine der Quellen der Angst, die stabilisierenden Rituale  loslassen zu müssen, auch wenn sie einem absolut nichts mehr bedeuten. Das muss man allerdings bewusst erfassen, und hat dadurch einen größeren Entscheidungsradius. Gestern begegnete ich einem unserer Nachbarn, der aus dem Wald kam mit einer Birke  über die Schulter gelegt. Oho, ein ganzer Baum, staune ich, und er erklärt mir, dass er jedes Jahr seiner Frau einen Maibaum aus dem Wald holt. Jaja die hartnäckigen Rituale, murmelte ich, ganz und gar nicht in Verbindung mit der Tradition der Maibaumschenkung, aber klar, was sein muss, muss sein. Und kennt man nicht selbst die zähe Schwere der Dinge, die man doch jetzt gerade im Lockdown mal gründlich durchforsten wollte. Und der begleitende, leicht ermüdete Blick, der über die Stockungen streift, wo sie zu Hemmschwellen wurden. Oft hält man dann die  eingerichtetenInstallationen für die einzig möglichen, dabei haben die Gewohnheiten sich nur eingenistet und brauchen entweder tiefere Erkenntnisse oder tiefere Nöte, um sich den Veränderungen überlassen zu können, wenn auch nur, wo sie unbedingt erwünscht sind. Allerdings setzen sie zuweilen da, wo sie überhaupt nicht in Frage gestellt werden, den geistigen Staub der Jahrhunderte an, und jeder kreative Impuls kann in leergewordenen und bedeutungslosen Gesetzen erstickt werden. Und meistens geschieht das Loslassen von eingefahrenen Gewohnheiten durch Katastrophen. Ich erlebe auch zur Zeit im Angesicht der indischen Katastrophe Momente dieser Schockstarre, die mir erzählt, dass etwas, was für mich tiefe Bedeutung hatte, endgültig zu Ende ist. Klar kann man nach einem Schock auch irgendwann umschalten und weitermachen. Wenn man am Leben bleibt, geht es ja sowieso weiter. Aber schon brennen in mir unwiderruflich die Bilder der großen Verbrennungsstätten, der Trostlosigkeit der unerbittlichen Realität des Here and Now ausgeliefert, jetzt nicht mehr als Wissen verstanden, sondern hautnah erlebt. Die leeren Straßen der Großstadt und ihre Totenstille wirken fast wie ein Trostpflaster.

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