José Ortega y Gasset

José Ortega y Gasset | Spanish philosopher | Britannica

Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken. Der arme Sterbliche, über dem die Wellen zusammenschlagen, rudert mit den Armen, um sich oben zu halten. Diese Reaktion auf die Gefahr seines eigenen Untergangs, diese Bewegung der Arme ist die Kultur – eine Schwimmbewegung. Solange die Kultur nichts ist als dies, erfüllt sie ihren Sinn, und der Mensch steigt auf über seinem eigenen Abgrund. Aber zehn Jahrhunderte kontinuierlicher Kulturarbeit haben neben nicht geringen Vorteilen die große Unzuträglichkeit mit sich gebracht, dass der Mensch sich in Sicherheit glaubt, die Erschütterungen des Ertrinkens vergisst und seine Kultur mit überflüssigem Wucherwerk belastet. Darum muss irgendeine Unstetigkeit eintreten, welche in dem Menschen das Gefühl des Verlorenseins, die Substanz seines Lebens erneuert. Es ist nötig, dass alle Rettungsringe um ihn her versagen, dass er nichts findet, woran er sich klammern kann. Dann werden seine Arme sich wieder regen.

 

Aus: ‚Um einen Goethe von innen bittend‘.


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