klagen?

Von der Weltbevölkerung als besonders beschwerlich empfundene Zeiten treiben ihre eigenen Blüten im Dschungel des Menschseins. In dem Artikel, der neulich in der „Zeit“ über eine neuerdings unter einigen Menschen grassierende Sehnsucht berichtete, die eigene Geburt rückgängig machen zu wollen, hat mich vor allem ein junger Inder erstaunt, der hier zu Wort kam. Er regt im Netz die anderen Vernetzten an, sich über das ungefragte Erscheinen bei den Eltern zu beklagen. Die Klagen gegen das Leben hat es wohl auch schon immer gegeben. Wenn der tägliche Ablauf einem so viel abverlangt, dass sich das Gefühl einstellt, man kommt überhaupt nicht an die eigenen Vorstellungen über das Leben heran, kann man sich das ohne Weiteres in all seinen Varianten vorstellen. Natürlich wurde ich auch an Goethes Werther erinnert, und wie sich nach der Lektüre eine Sehnsucht nach dem Tod durchsetzte und zu Selbstmorden führte. Es ist schade, dass man eine bestimmte Leidenschaft für das jeweilige Schicksalspaket, mit dem sich Menschen vorfinden, nicht einimpfen kann. Ja, man scheitert meistens bei dem Versuch, jemanden, der vom Leben nicht begeistert ist, in Begeisterung versetzen zu wollen. Es muss ja auch nicht unbedingt die Leidenschaft für die eigene Existenz und ihr Abenteuerpotential sein, die einen umtreibt, aber ohne einen Lebenswillen stelle ich mir das schwierig vor. Automatisch kommt mit dem Willen zum Leben auch die Verantwortung dafür, klar, wer soll sie sonst haben. Es hat sich zwar gezeigt, dass es für ein Leben nichts Förderlicheres geben kann als ein wohlwollendes Zuhause im Schutze und der Fürsorge einer Familie, aber nicht nur mangelt es überall und in allen Kulturen an diesen positiven Grundbedingungen, sondern auch hier gibt es keine Garantie für die jeweilige Handhabung des Lebensprogramms, das sich aus so vielen Facetten zusammensetzt, sodass man erst spät überhaupt ein zusammenhängendes Bild sehen kann, durch das sich der persönliche Weg erschließt. Egal, wo und wie und bei wem ich mich orientiert habe auf meinem Weg, so bin ich doch als Individuum immer auch allein unterwegs mit meinen erst einmal unsichtbaren Einstellungen, die sich langsam aber sicher von innen nach außen hin formieren und mir vor Augen halten, wer ich durch sie geworden bin. Warum mich der junge Inder mit seiner negativen Bilanz erstaunt hat, ja warum? Es war erst vor ein paar Jahren, dass in meinem indischen Heimatdorf die Selbstmorde anfingen, das war neu. Viele Studenten brachten sich um, immer wieder hing einer am Ventilator, eine der hoch genugen und einigermaßen stabilen indischen Anbringungen der Haushalte. Bauern fingen an, sich aus Verzweiflung an ihrer Situation umzubringen. Wenn keinerlei Lösungen mehr in Sicht sind und kein einziger Ausgang aus der Misere verfügbar, wer kann da helfen, wenn auch da keiner in Sicht ist. Dann: Klagen handeln ja meistens von dem, was als fehlend, als Mangel dargestellt wird, als zu sehr abweichend von dem, was wir uns alle so vorstellen vom Ideal der menschlichen Darbietung, sofern ein Ideal vorhanden ist. Aber es gibt auch die Übersättigung an dem Vielen, das zur Verfügung steht, neuerdings geschult am digitalen Bewusstseinsstrom, der unversehens mitreißen kann in die vielen Welten und Unterwelten und Oberwelten, und so viele schon zurücklässt in einsamen, mit der ganzen Welt vernetzten Kammern, und etwas schleicht sich vielleicht fort aus den Wesen. Eine natürliche Zugehörigkeit  zum einzigen, was wir kennen: ein blauer Planet im All und die abenteuerliche Reise auf ihm. Weiterhin gute Fahrt! Und möglichst „nicht im Sommer sterben, wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht“(*)
(*)(Schlusssatz aus Gottfried Benns Gedicht „Was schlimm ist“).

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