wachsam

In Indien habe ich gelernt, bestimmte Wahrnehmungen oder Gefühle  zuzulassen, die in Deutschland wenig geschult werden konnten. Wenn es einem Land wie Deutschland gelingt, nahezu jedem Menschen die als wesentlich betrachteten Grundbedürfnisse zu ermöglichen, würde man gerne annehmen, dass das zu Entspannungen dem Leben gegenüber führt, und das tut es ja auch. Wie  begehrenswert einem diese wenigen Dinge vorkommen können, wenn man sie nicht gesichert hat, weiß man erst dann, wenn sie nicht mehr erreichbar sind oder je waren. Geborgenheit kann eine Haustür sein, ein Garten, beschützende Wände, ein Bett, in dem die übermüdete Form ihre Ruhe und ihre Nähe finden kann. Doch hört man im Westen oft nur von den vielen Wegen des Leidens, auf denen Menschen sich allein und mit Anderen befinden, und was sie tun und nicht tun, und was sie sich antun, und was sie gar nicht mehr tun oder tun können, wenn das Unvorhergesehene eintritt. In Indien kann man nicht mehr wegschauen. Man sieht die Frauen, die irgendwo aus dem Haus geworfen wurden, in langen Reihen nebeneinander sitzen und betteln, Witwen sind nicht beliebt. Oder die, die der Wahnsinn gezeichnet hat, oder die, denen man ansieht, dass sie nicht mehr können, und die, die auf den kargen Abfallhäufen die noch kargeren Reste sammeln, und die Krankheiten, die dadurch entstehen, und die vielen ohne Krankenversicherung, deren Leben keiner mehr wahrnimmt. Doch der Lebenswille ist mächtig, und unzählig die verborgenen Wundertaten, die niemand je sieht in der tiefen Stille, aus der sie geboren und auch geborgen werden. Wenn die Bühne keine Wahl mehr zulässt und die eigene Rolle durch Einsatz nicht zu verändern ist, ja, dann gibt es auch da innere, letzte Freiheiten, die auch zu menschlicher Reife führen können, aber nicht müssen. Es kann auch zu Gewalt führen und zu Mord und zu Gefühllosigkeit. Es liegt also noch an diesem vom Außen unabhängigen Geheimnis, wie der Mensch mit all dem umgeht, und warum er sich so oder so entscheidet. Deswegen ist es angebracht, sich selbst, sei es nun im Westen oder im Osten, weder zu unterschätzen noch zu überschätzen, aber doch so klar wie möglich einzuschätzen und wachsam zu bleiben, vor allem wachsam dem eigenen Schmerz und Leid gegenüber, und dadurch auch wachsam dem Schmerz und dem Leid der Anderen gegenüber. Damit der Gewahrsam der spürbaren inneren und noch tiefer liegenden Grundbedürfnisse einen hörbaren Klang erzeugen kann, der Liebe unter Menschen ermöglicht.

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