von Acht nach Neun

Noch ein paar Stunden, dann wird sich mal wieder die Zahl, automatischer als das Bewusstsein, verändern, denn die Bewegung ist in ein System eingebaut, das sich gewissen Ordnungen verpflichtet. Im Moment hat hier die christliche Mitternacht Vorrang, bei den Muslimen fängt das Neue Jahr im Juli an, der Hindukalender kommt später und wird das Jahr 2076 einläuten, scheint aber bei der Bevölkerung in Vergessenheit geraten zu sein. Da es auf dem Planeten eine große Übereinstimmung darüber gibt, dass der Übergang in eine neue Zahl gefeiert werden muss mit allem, was das Zeug hält, kann und muss man sich auf irgendeine Weise darauf einstellen. Die Times  berichtet, dass die Regierung zu nächtlicher Anwesenheit aller verfügbaren Polizisten aufgerufen hat, die vor Bars und Hotels Betrunkene davon abhalten sollen, in ihre Autos zu steigen, damit vielleicht ein paar Menschen weniger zu Schaden kommen. Der Schaden ist ja oft gar nicht das Sichtbare. Es ist das, was innen schon da war, bevor die Hände zu den Flaschen greifen. Eine junge Inderin, die mich gestern besucht hat, hat mir erzählt, dass bei ihren Freunden für Neujahr Koks angeschafft wird. Mein Staunen hängt mit keinem Haar an der Moralschiene. Jeder tue, was er muss, solange das eigene System die verpflichtenden Ordnungen einhält, die ein gemeinsames Dasein ermöglichen. Und weil die Unbelehrbarkeit des Menschen so berühmt ist, werden auch heute Nacht Menschen durch die Süchte Anderer zu Schaden kommen, man weiß nur noch nicht wer, und wie, und warum. Und es wurde berichtet, dass es spezielle Help-lines gibt in der Nacht, wo Einsame, die sich ausgeschlossen fühlen vom großen Tohuwabohu, anrufen können und mit einem Menschen reden. Ausgeschlossen von was? Wie kam’s, dass das Gefühl sich breit machte? Warum keine Freude und kein Genuss bei sich selbst zuhause? Schöne Musik, Kerzenlicht. Man kann sich bedanken bei sich, was man so alles hinbekommen hat. ja, warum nicht den Jahresfilm ablaufen lassen undsoweiter. Wir erleben alle so unendlich viel. Das kann  leicht zum Stau führen, zur Verstopfung der Gehirnareale. Daher finde ich diese Stunden, bevor der orgasmo mundo ausbricht, eigentlich ganz geeignet….ja, für was denn? Also ich ganz persönlich nehme mir überhaupt nichts vor, daher ist alles offen. Der Freund und Betreuer des Sadhu-Mönches, denen ich morgens immer begegne, hat mir heute eine Tüte gefüllten, grünen Pfeffer und ein Glas mit selbstgemachten Ajar (eingelegtes Gemüse) mitgebracht, zwei Köstlichkeiten, die mein Mittagessen auf eine höhere Ebene heben werden. Bevor der unvermeidliche Techno-Stress einsetzt, gilt es, etwas vorzuruhen, damit man, falls man auf Schlaf verzichten muss, dennoch fit bleibt. Und obwohl direkt um uns herum Raketen abgefeuert werden, ist meine Erfahrung der letzten Jahre, dass sehr viele Familien an der Flatscreen verbringen. Die Welt ist zu ihnen gekommen, ohne sie in die Welt zu holen. Wenn man auf mediale Weise zu viel in die Welt schaut, denkt man, man sieht sie. Aber man bekommt ja gar nicht mehr mit, wie man sie selbst sieht. Beziehungsweise sich selbst sieht. Wer einmal spielt, muss kein Gambler werden, aber die Stunden des Lebens wegzuspielen ist sicher keine Alternative zum Lebendigsein. Dann wiederum ist man frei, zu denken, was man möchte, und vor allem, was einem gut tut. Ja, natürlich kann man das entscheiden. Das Innen hat immer Spiel-Raum. Ich wünsche allen möglichst viel Spiel-Raum, und gute Gespräche mit sich und den Anderen.

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