wach

Bei der Frage, was denn nun diese „magische“ Kraft von Indien ausmacht, denke ich jetzt öfters mal an einfache Dinge. Da man ständig überfordert ist mit Eindrücken, die es zu verarbeiten gilt, bleibt man auf natürliche Weise mehr bei sich. Auch das heißt jetzt nicht, in Ruhe und dem so leidenschaftlich proklamierten Frieden zu landen, sondern es heißt eher, wachsam zu sein, weil um einen herum alles ständig in schwer einschätzbarer Bewegung ist. Ich muss mich auch immer wieder daran gewöhnen, dass so viele Tiere unterwegs sind auf ihren eigenen Bahnen, die ich vom Westen nur eingezäunt oder an der Leine geführt kenne: Kühe, Bullen, Hunde, Affen, Gänseherden, Tauben immer um einen herum, alle auf Nahrungssuche, und es wird durchaus als Pflicht gesehen, etwas Nahrhaftes für sie dabei zu haben, auch eine kluge Idee, weil man sie dadurch beschäftigen kann, um das eigene Weitergehen zu sichern. Obwohl man um 11 Uhr am Vormittag schon ziemlich viele Erschöpfte wieder schlafen sieht, machen die Inder generell einen sehr wachen Eindruck, da sie an das ständige Wahrnehmen der Bewegungen gewohnt sind. Zum Beispiel kann ich Mohan, der (brahmanische) Hüter eines der Zugänge zum See, fragen, ob er die braune Äffin, die jahrelang ungewöhnlicherweise mit einem großen, silberhaarigen Affen gelebt hat und mit seiner Gruppe gereist ist, ob er sie gesehen hat. Und ja, er weiß, dass sie nun zu einer braunen Gruppe zurückgekehrt, ihr braunes Kind aber mit den Lemuren weitergezogen ist. Dem Kleinen fehlt die rechte Hand, erzählt er, aber er sei clever und geschickt darin, sich um seine Nahrung zu kümmern. Andere Fragen, die mich interessieren, habe ich aufgehört zu stellen, da von mir erwartet wird, dass ich weiß, was läuft oder was Hindus so denken. Ich bin auch tatsächlich ziemlich gut informiert darüber, was Hindus denken, bin aber bei aller Begeisterung für die Tragweite dieser Kultur immer auch bei meinem eigenen Denken geblieben. Das wurde allerdings ziemlich gefordert, und ich kann mir nicht einmal das antike Griechenland mit seinem Denken  so fordernd und förderlich vorstellen, wie das hier gang und gäbe ist. Nicht, dass die Tiefen des Denkens überall anzutreffen sind, aber jeder Hindu ist damit in Kontakt gekommen. Nun muss man bedenken, dass, wenn ich von Indien berichte, es zwar nicht von einem ländlichen „Dorf“ aus ist, wie ich es gerne nenne, sondern es ist ein „Tirtha“, ein sakrales Feld, das mit einem Wasser verbunden ist, und es ist, gemäß ihres Denkens, das Opferfeuer von Brahma, dem Schöpfer, das Ganze an den Rand der Wüste gelegt, von wo ab und zu noch ein frischer Windhauch zu uns gelangt, während man ein paar Kilometer weiter in der nächstgroßen Stadt sofort das Tuch über die Nase bindet, um die Erstickung einzudämmen. Heißt: ich berichte aus einer vergehenden Welt. Aber vergeht sie nicht immer? Und wer weiß, was bleibt und sich immer wieder behauptet als Ewigkeit?

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