schweifend


Schönheit des Gruseligen
Man kann ja fast schon dankbar sein, wenn im tosenden und tobenden Coronawirbelsturm noch andere Themen in einem selbst auftauchen, obwohl auch sie sich als flüchtige Blinklichter erweisen können, durch die ich immerhin einige neue Einblicke in mein Wesen erhalten kann. So schweift zum Beispiel mein Auge über ein kleines Marmorstück, auf dem ich nur schwarze und rote Farbe zum Pinseln verteile. Auf einmal sehe ich ein Gesicht und verstärke es mit Farbtupfern. Etwas in mir schaudert, fast kann ich es genussvolles Schaudern nennen. Denn das Entstandene berührt mich, und vielleicht ist es wahr, dass alles einen Berührende auch etwas Schönes hat, ob es nun aus der dunklen oder der hellen Seite tritt. Auch das Schreckliche hat seine Vielfalt, und wer war nicht schon mal erstaunt, als Rilke alle Engel als schrecklich bezeichnete. Oder  kann kaum etwas so tief die innere Bereitschaft zur Weltbeteiligung aufwühlen, wenn man merkt, wie erschreckt und beschämt man sich innerlich immer wieder von den Wäldern im Grenzgebiet Belarus/Polen abwendet, wo Menschen in bitterer Kälte auf das vollkommen Hoffnungslose warten. Und wir, die wir dort nicht frieren und hoffen, sind trotzdem auf andere Art gefährdet durch die Versklavung des Zuschauens, das wir uns nicht mehr ersparen können. Wir leben in einer Zeit, in der sehr viele neue Entscheidungen getroffen werden müssen, die keine/r vorher kannte. Oder waren sie doch schon bekannt, müssen aber durch die aktuellen Notlagen neu bewertet werden. So kann ich mich stets aufs Neue wundern, wie sich täglich bei uns zur Zeit 60 000 Menschen an Covid anstecken können, aber sie können. Und auch wenn man auf die 80 Millionen BürgerInnen hinweist, so sind doch hunderttausende von Covidinfizierten auch kein Klacks. Es ist ja auch kein Klacks mehr, sondern ein  riesiges Dunkelfeld, so als wäre in der Matrix auf einmal die Beleuchtung ausgegangen und man würde zuhause sitzen mit der brennenden Kerze und richtig schön Zeit und Muße haben zum Nachdenken. Denn so ist es eben auch. Neue Künste sind gefragt, wenn die Lieferketten im Stau stehen und das neue Smartphone nicht rechtzeitig in den Händen landet, die es gewohnt sind, alles sofort zu erhalten, was sie begehren. Und von den Ideen, die man letztes Jahr hatte, als der ganze Zirkus sich zuspitzte, kann auch noch einiges umgesetzt werden. Schwerfällig bewegt sich der Gewohnheitswurm durch die Kästen und Kisten, die man zu leeren bereit war, denn man wusste, nie mehr würde man wirklich dort noch einmal hineinschauen, denn hatte man nicht schon das darin Vorhandene aufgenommen und sozusagen bereits hinter sich gelassen und dann gefangen genommen in diesen Behältern, die keinen Aufschluss mehr geben können über den lebendigen Verlauf, in dem man sich befindet. Anders vielleicht mit den Büchern, auch wenn man da bereits mal durchgegriffen hat und ein paar Kisten weggetragen. Liebevoll schweift der Blick über die aussagekräftigen Rücken, hinter denen sich jedenfalls Gelebtes verbirgt, mit dem man sich noch heute verbinden kann. Die Geister, die man zu den Lichtblicken zählen darf, die das eigene Denken versüßt und gestärkt haben. Und Freunde und Bücher und Papier und Stifte und Tasturen (zum Beispiel) haben sich in Notzeiten prächtig bewährt, das kann man nicht leugnen. Hat man aber Verbundenheit gefunden mit der Liebe, halten sich die Klagen nur noch im Sinne des Ausgleichs. Denn was soll man machen: Es ist, wie es ist.

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