wirklich

Nun sage ich besser gleich, dass das kein Engel ist, obwohl: wer sagt, was ein Engel ist oder nicht, wenn ich ihn sehe, aber auf dem Bild ist es nicht wirklich ein Engel (oder ein Vogel), denn es ist ein zerknülltes Taschentuch auf dem Deckel meines Papierkorbes. Ich schätze tatsächlich jede Gewahrsamsübung, denn einerseits kann es sehr schön sein, in einer Beugung des Bettzeugs ein griechisches Profil zu erkennen, aber es sagt auch etwas über einen Aspekt der menschlichen Wahrnehmung aus, der ziemlich ungemütlich werden kann, wenn man bedenkt, wie viel man sieht und hört von dem, was gar nicht da ist. Vielleicht sind so die Worte Nach-Denken und Nach-Sehen usw entstanden, damit man lernt, nochmal genauer hinzuschauen, ob die Dinge wirklich so sind, wie sie mir erscheinen. Wie mir die Dinge selbst erscheinen, ist ja meine Sache, und nichts spricht dagegen, dass ich sie gerne mitteile, oder gerne auch die Wahrnehmungen anderer teile, die sie mir weitergeben. Nur vergessen wir (zu) oft, dass nicht nur die meisten Menschen ihr Wahrgenommenes als das betrachten, was es auch für die anderen ist, sondern wir vergessen, dass wir vor allem in Gesellschaften wie unserer, wo geschliffenes und reflektiertes Denken wertgeschätzt wird, alles Denken genau von den vielen Bedingungen dieser Gesellschaft geprägt ist, also woanders als solche Wirklichkeit gar nicht vorkommt. Es gibt ja diese Anekdote über ein Experiment, bei dem in einem kleinen afrikanischen Dorf den BewohnerInnen der Film einer Straße in New York gezeigt wurde, und sie sahen alle das gleiche aus ihrer eigenen Welt und lachten herzlich, denn sie sahen alle Hühner. Das Auge und das Ohr holen sich heraus, was sie zu sehen und zu hören glauben und halten es für die bestehende Wirklichkeit. Wenn ich in Indien bin, treffe ich auf so viele Menschen, denen ich und ihrer Familie von Herzen eine  gute therapeutische Behandlung wünschen würde, aber was habe ich nicht alles von den Formen des Wahnsinns dort gelernt von Menschen, die man keine Minute hier in ihrem Zustand auf der Straße geduldet hätte. Sie wurden einfach von allen beobachtet und weitergeleitet, und die meisten zeigten sich harmlos und sind auch heute noch unterwegs. Wissen kann auch lebensvernichtend sein, wenn zu viele Ähnlichkeiten zwischen mir und den Anderen gesucht werden, bei allem Erkennen einer gemeinsamen Quelle jenseits aller vorhandenen Weltanschauungen. Wenn das immer illusionäre Bild der Welterscheinung tatsächlich nur durchdrungen werden kann durch eine Art der Selbstbetrachtung, die das eigene Sein als das einzige Forschungslabor sieht, in dem man selbst der Zeuge des Weltgeschehens ist mit einem gewissen Anspruch an Wahrheitsgehalt, dann kommt man notgedrungenerweise zu der Erkenntnis, dass es so ist, wie es ist, und lockert die Riemen des Anspruchs an den Wahrheitsgehalt.  Man betrachtet leicht ermüdet die Vielzahl der Meinungen, die man sich aneignen zu müssen glaubte, als hinge das eigene Wesen von ihnen ab und könnte nicht einfach den eigenen Augen trauen. Eben. Man muss lernen, bis man ihnen trauen kann zu erkennen, was jeweils wirklich da ist, und nicht, was man selbst oder was andere daraus machen wollen. Es ist die Kunst, die uns in die Erweiterung der Wahrnehmung führt, und genau zu dem Ort, an dem alle Deutungen durchwandert sind, und das begrenzt und grenzenlos Deutbare sich dem entgeisterten Geist offenbart, der nun lernt, sich im Genuss der Deutungsfreiheit zu bewegen.

One thought on “wirklich

  1. Ru Antworten

    Ich weiß zwar nicht was eine Erleuchtung ist, aber das ist ganz klar eine Anleitung dazu !

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